Das andere Kind
hier
angezettelt hatte, völlig bedeutungslos.
Und Tanner würde wieder stärker in ihr Visier rücken müssen. Denn bislang war er die einzige
Person, die sie kannte, die mit beiden Fällen in Verbindung stand - wenn auch mit dem Fall Amy
Mills in einer sehr verschlungenen und ziemlich mühsam konstruierten Weise, wie Valerie zugeben
musste.
Es wäre interessant zu wissen, ob auch Amy Mills anonyme Anrufe bekommen hatte. Und dann gab es
noch Paula Foster. Die vielleicht das eigentliche Opfer hätte werden sollen. Jemand konnte
gewusst haben, dass sie Abend für Abend zu dem Schafstall kam. So, wie jemand gewusst hatte,
dass Amy Mills an jedem Mittwoch noch spät allein durch ein einsame Parkanlage laufen musste.
Zwei junge Frauen, vom Typ her einander nicht unähnlich. Dann war Fionas Tod ein Zufall. Weil
sie jemanden gestört hatte? Weshalb hätte sie, anstatt zur Whitestone-Farm zu gehen, über den
Fußpfad zu der Schlucht wandern sollen? Oder war sie ihrem Mörder auf der Straße begegnet?
Hatte ihn erkannt und konnte deshalb von ihm nicht am Leben gelassen werden? Wobei es ein
Rätsel blieb, weshalb sich jemand, der es auf Paula Foster abgesehen hatte, um halb elf am
Abend herumtrieb. Paulas Rhythmus war ein völlig anderer.
Valerie stand auf und ging zu ihrem Auto. Sie musste mit dem Pathologen sprechen. Sowie sie
Zeit fand, wollte sie dann den Namen Jennifer Brankley in den Polizeicomputer eingeben. Es
mochte für den vorliegenden Fall völlig bedeutungslos sein, aber sie wollte klären, in welchem
Zusammenhang ihr der Name schon einmal untergekommen war.
Sie öffnete die Wagentür. Sie war müde. Die
vielen Puzz leteile des Falles schienen sich höher und höher vor ihr
aufzutürmen, wirr und ungeordnet, und sie fürchtete, sie werde diesen Berg vielleicht nie
abtragen können.
Sie zwang sich, die alte Grundregel zu beachten, die sie sich selbst vor Jahren gesetzt hatte:
Nicht den Berg betrachten, sondern nur den allernächsten Schritt. Dann den nächsten. Und den
nächsten. Sie neigte zur Panik, wenn sich die Dinge zu hoch vor ihr türmten, zu undurchsichtig,
zu verworren wurden.
Und sie hegte schreckliche Versagensängste. Nicht gerade günstig in ihrem Beruf, und sie hoffte
nur, dass keiner ihrer Kollegen etwas davon ahnte. Valerie wendete ihren Wagen und fuhr vom
Ho£
»Dr. Cramer? Kann ich Sie einen Moment sprechen?« Colin Brankley tauchte in der Küchentür auf
Er hielt einen Stapel Papiere in der Hand und blickte sich unruhig um, als wolle er
sichergehen, dass niemand in der Nähe war.
Leslie stand vor der Spüle und ließ Wasser in ein Glas laufen. Sie hatte
Durst, war müde und betäubt und zugleich voll Erregung. Ihre Nerven schienen unter der Haut zu
vibrieren. Sie fragte sich, wann sie weinen würde oder schreien oder zusammenbrechen. Auf
andere Menschen musste sie seltsam ruhig wirken, vielleicht sogar ungerührt. Aber sie wusste,
dass alle Gefühle, die mit ihrer Großmutter zusammenhingen, mit ihrem gewa ltsamen Tod, aber auch mit ih rem Leben, tief in ihr
arbeiteten. Ständig tauchten Bilder in ihrer Erinnerung auf, Szenen, Episoden, Momente, an die
sie seit Ewigkeiten nicht mehr gedacht hatte, die völlig vergessen und schon gar nicht mehr
wahr gewesen waren. Es war wie ein Fieber.
Wahrscheinlich kam daher ihre Gier nach Wasser, so kalt und frisch wie nur möglich. »Leslie«,
antwortete sie, »sagen Sie einfach Leslie zu mir.« »In Ordnung.« Colin trat in die Küche.
»Leslie. Haben Sie gerade Zeit?« Er zog die Tür hinter sich ins Schloss.
»Ja. Natürlich.« Sie führte das Glas an den Mund, stellte dabei fest, dass ihre Hand sachte
zitterte, und ließ das Glas sinken. Sie mochte sich nicht in Gegenwart Colin Brankleys
bekleckern, und wenn es nur mit Wasser geschah. »Es gäbe wahrscheinlich viel zu tun, aber ich
weiß nicht ... « Sie hielt inne, unschlüssig. »Im Augenblick weiß ich nicht, wie es weitergehen
soll«, sagte sie leise.
Colin sah sie mitfühlend an. »Das kann ich gut verstehen. Es war ein schrecklicher Schock. Für
uns alle, aber für Sie besonders. Keiner von uns ... kann es richtig fassen.«
Seine Freundlichkeit tat ihr gut. Sie merkte, wie sie etwas in der Kehle würgte, und schluckte
krampfhaft. Es wäre wohl gut zu weinen, aber nicht in diesem Moment. Nicht in dieser Küche,
nicht vor Colin. Sie kannte den Mann kaum. Sie wollte nicht vor seinen Augen
zusammenbrechen.
»Sie haben etwas für mich?«, fragte
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