Das andere Kind
Beckett war
freigestellt, weil er auf der Farm gebraucht wurde, und ich wäre nie auf die Idee gekommen, ihn
dafür zu verurteilen. Ich hätte nichts dagegen gehabt, wenn überhaupt kein Mann an die Front
gemusst hätte. Mit Emma teilte ich die tiefe Sorge, dass es Chad noch erwischen könnte, wenn
der Krieg nicht bald vorbei wäre. Sicher hätte Mum um ihren Harold auch Angst gehabt und war
froh, dass er in London hatte bleiben dürfen.
»Na ja, dann werde ich wohl kaum noch eine Rolle spielen in deinem Leben«, sagte ich düster,
eine Bemerkung, auf die hin Mum natürlich heftig protestierte.
»Du bist mein Kind! «, rief sie und umarmte mich. »Zwischen uns ändert sich gar
nichts!«
Sicher meinte sie das auch so. Aber obwohl ich noch nicht über eine ausgesprochen weitreichende
Lebenserfahrung verfügte, sagte mir mein Instinkt, dass sich doch etwas ändern würde. Durch das
Hinzukommen eines neuen Familienmitglieds änderte sich immer etwas. Und wer wusste, wie sich
dieser Harold mir gegenüber verhalten würde? Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er allzu
begeistert von der Tatsache war, dass seine Braut eine bald zwölf jährige Tochter mit in die
Beziehung brachte.
Als ich Mum am nächsten Morgen in einem ziemlich weiten Fußmarsch zur Hauptstraße begleitete,
wo einmal am Tag der Bus nach Scarborough vorbeifuhr, wünschte ich mir inbrünstig, mein
Aufenthalt auf der Beckett-Farm werde noch lange, noch richtig lange dauern. Weniger denn je
spürte ich das Bedürfnis, nach London zurückzukehren. Paradox war nur, dass die Dauer meines
Aufenthalts in Yorkshire von der Dauer des Kriegs abhing, und kein vernünftiger Mensch konnte
hoffen, er möge noch lange dauern. Zumal Chad im April bereits seinen sechzehnten Geburtstag
feiern würde und die Situation für ihn kritisch werden konnte.
Während ich am Straßenrand stand und meiner zum Bahnhof davonfahrenden Mutter hinterher winkte,
kamen mir die Tränen. Ich fand mein Leben verworren und schwierig. Sehr düster mit einem Mal
und beängstigend. Ich hatte das Gefühl, bei niemandem auf der Welt mehr wirklichen Halt zu
finden. Am wenigsten vielleicht bei meiner eigenen Mutter.
Und im darauf folgenden Sommer war es dann so weit. Wenige Tage nach meinem zwölften Geburtstag
erhielt ich Anfang August ein Telegramm von Mum. Darin teilte sie mir mit, dass sie und Harold
geheiratet hatten.
Es war ein heißer, trockener Tag, der Himmel von jenem kristallenen Blau, das so typisch ist
für den August. An den Bäumen reiften die Äpfel. Im Wind mischten sich der Geruch des Meeres
und der nach frisch gemähtem Gras. Es war ein vollkommener Tag. Ferien. Freiheit. Ich hätte
unter einem Baum liegen und lesen, träumen, träge den wenigen über mir entlangsegelnden Wolken
nachblicken können.
Stattdessen saß ich am Strand auf einem Felsen, völlig in mich
zusammengesunken. In der Hand hielt ich das Telegramm, das mir in dürren Worten mitteilte, dass
ich einen Tag zuvor einen Stiefvater bekommen hatte. Stiefvater! Ich kannte die Stiefmütter aus den Märchen. Die
Stiefväter konnten nicht viel besser sein.
Ich weinte mir fast die Augen aus.
Irgendwie hatte ich natürlich gewusst, dass es so kommen würde, aber seltsamerweise reagierte
ich trotzdem völlig geschockt. Ich fühlte mich verraten, überfahren. Mum hätte vorher mit mir
sprechen müssen, statt mich per Telegramm vor vollendete Tatsachen zu stellen. Sie hätte mir
Harold vorstellen müssen, herausfinden, ob ich mich eigentlich auch mit ihm verstand, ob er
nett zu mir war, ob wir klarkamen. Was, wenn er mich auf den ersten Blick hasste - und ich ihn?
Wenn er mich schikanierte, mir das Leben schwer machte, mich anbrüllte? Was dann? Würde sie
sich wieder scheiden lassen? Vielleicht wäre es ihr auch egal. Vielleicht war sie so hin und
weg von ihrer Eroberung, dass es sie gar nicht mehr interessierte, ob es ihrem Kind gut ging
oder nicht.
Und bei dem Begriff Kind kam mir ein neuer schrecklicher Gedanke: Was, wenn Mum und Harold noch ein gemeinsames
Kind bekämen? Vermutlich war Mum dafür noch nicht zu alt, sonst hätte Harold sie vielleicht gar
nicht geheiratet. Dann würde ich natürlich völlig an den Rand gedrängt werden. Mum würde sich
nur noch um das schreiende Baby kümmern, und Harold würde seinen Sprössling anbeten und
vergöttern, und ich wäre jedem nur im Weg. Am Ende steckten sie mich zusammen mit Brian in ein
Waisenhaus. Sicher würde Harold Mum
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