Das andere Kind
Gott, sind die Wege steil, und noch
dazu sieht man die eigene Hand nicht vor den Augen!«
Leslie versuchte noch immer, richtig wach zu
werden. »Wo kommst du denn jetzt her?«
»Aus London. Ich bin gegen vier Uhr heute früh
losgefahren.«
»Warum das denn?«
Er schälte sich aus seinem
nassen Anorak. »Ich konnte Urlaub bekommen. Und da dachte ich ... « »Was?« »Ich dachte, du
brauchst mich vielleicht. Na ja, ich kann mir vorstellen, dass dir scheußlich zumute ist ... «
Sie verschränkte die Arme in einer
abwehrenden Geste vor der Brust. »Ich hatte dir gesagt, ich möchte nicht, dass du
kommst.«
»Immerhin«, erwiderte er, »hattest du mich
aber angerufen.«
»Tut mir leid. War ein Fehler.«
Er sah verletzt aus. »Leslie, könntest du
vielleicht ... «
»Ich könnte gar nichts!«, fauchte sie.
Nicht schwach werden. Nicht in eine weiche Stimmung geraten. Denk daran, was er dir angetan
hat. Wie weh es getan hat, als er von seinem Ausrutscher berichtete. Wie sich die Zeit danach
anfühlte. Die Angst, er könnte es wieder tun. Das Misstrauen, ob es wirklich bei einer Nacht
geblieben war. Angst und Misstrauen. Sie war wie erlöst gewesen, als sie endlich die Kraft
gefunden hatte, den endgültigen Schlussstrich zu ziehen.
Er fuhr fort, ohne ihren Einwurf zu
beachten: »Könntest du vielleicht bedenken, dass wir zehn Jahre verheiratet und fünfzehn Jahre
zusammen waren? Dass deine Großmutter auch zu meiner Familie gehört hat? Ich habe auch einen
Verlust erlitten. Ich habe ein Recht zu trauern. Ich habe ein Recht zu erfahren, was passiert
ist.«
»Okay. Letzter Punkt: Was passiert ist,
weiß im Moment niemand, wenn du deswegen hier aufgekreuzt bist, muss ich dich enttäuschen.
Keine neuen Erkenntnisse. Und vorletzter Punkt: Natürlich kannst du trauern. Aber bitte allein.
Ohne mich.«
Sie standen einander gegenüber. Leslie
merkte, dass sie kurz und hektisch atmete. Sie versuchte, ruhiger zu werden.
Lass dich nicht aufregen von
ihm!
Stephen sah sie nachdenklich an, dann
griff er nach seinem Anorak, den er über einer Stuhllehne abgelegt hatte.
»Das war deutlich. Ich werde mir
etwas suchen, wo ich ein Frühstück bekomme und ... «
Plötzlich beschämt, strich sie sich
mit einer verlegenen Geste die Haare aus dem Gesicht. »Du kannst hier frühstücken. Ist schon in
Ordnung. Tut mir leid, wenn ich ... «
Er lächelte erleichtert. Sie
verschwand im Bad und konnte hören, dass er in die Küche ging. Sie hatten früher häufig ihre
Ferien bei Fiona in Yorkshire verbracht, Stephen kannte sich aus in der Wohnung. Während sie
ihr verquollenes Gesicht im Spiegel betrachtete, dachte sie, dass sie fast erleichtert war,
nicht allein zu sein. Vielleicht würde Fionas Tod eine neue Phase einleiten: eine Phase, in der
Leslie ihre Feindseligkeit und Verletztheit aufgeben konnte. Am Ende wäre es möglich,
freundschaftlich mit Stephen umzugehen.
Geduscht, geföhnt, in Jeans und
Sweatshirt, kam sie schließlich ins Wohnzimmer. Es roch nach Kaffee. Stephen hatte den Tisch am
Fenster gedeckt, allerdings fiel das Ergebnis eher sparsam aus. Ein großes Stück Cheddar
prangte auf einem Teller in der Mitte, daneben stand eine Schale mit Crackern. Stephen, der in
den undurchdringlichen Nebel hinausgeblickt hatte, wandte sich um. »Wovon lebst du?«, fragte
er. »Der Kühlschrank ist leer. Das Einzige, was ich in dieser Küche in rauen Mengen gefunden
habe, sind Kaffee und Zigaretten!«
„Genau. Die Antwort auf deine Frage«,
sagte Leslie. „Kaffee und Zigaretten. Davon lebe ich.« „Nicht sehr gesund.«
„Ich bin selbst
Ärztin.« Sie setzte sich, schenkte sich Kaffee ein, nahm den ersten Schluck voller Genuss. »Das
tut gut! Langsam kehren meine Lebensgeister zurück!« Während des Frühstücks - falls man die
klägliche Mahlzeit so nennen konnte - beri chtete Leslie vom
bescheidenen Stand der Ermittlungen, soweit sie ihn kannte, von dem
verhängnisvollen Verlobungsabend, von Colin und Jennifer Brankley, den Feriengästen, von dem
Streit zwischen Dave Tanner und Fiona. Von Fionas fataler Entscheidung, zu Fuß durch die Nacht
zu laufen.
»Irgendwo auf dieser einsamen
Straße dort draußen«, sagte sie, »muss sie dann ihrem Mörder begegnet sein.«
»Dieser Dave Tanner ist
vermutlich der Hauptverdächtige«, meinte Stephen. »Er könnte noch in der Nähe gewesen sein. Und
so, wie du den Abend schilderst, dürfte er eine Mordswut im Bauch gehabt haben.«
Das
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