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Das andere Kind

Titel: Das andere Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Das andere Kind
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Handgriffen hatte er einen Flieger gefaltet und stand auf. »Komm«, sagte
    er, »schicken wir es einfach weg!«
    Auch ich stand auf. Chad prüfte den Wind und warf dann den Flieger geschickt nach oben, so dass
    er von der Thermik ergriffen und getragen wurde. Er flog ein gutes Stück, ehe er ins Meer
    stürzte. Eine Weile sahen wir ihn noch auf den kleinen Wellen herumtanzen, dann entschwand er
    unseren Blicken.
    »Weg«, sagte Chad, »und jetzt denkst du einfach nicht mehr daran.«
    Ich musste lachen. So einfach war das. Tatsächlich war Mum mit einem Mal
    weit weg. Harold Kane sowieso. Meine Zukunft, die Frage, was werden sollte, interessierte mich
    plötzlich nicht mehr. Wirklich war nur die Gegenwart, der
    Strand, das Meer, der Himmel. Und Chad, der ganz selbstverständlich
    meine Hand nahm.
    »Komm«, sagte er, »gehen wir nach Hause.«
    Ich erinnere mich, dass ich auf diesem Heimweg dachte, dies sei die glücklichste Stunde meines
    Lebens. Nie wieder könnte ich glücklicher, nie wieder das Leben vollkommener sein. Selbst
    heute, mehr als ein halbes Jahrhundert später, kann ich das Besondere jenes Nachmittages noch
    spüren. Vielleicht gibt es das ja in jedem Leben: Momente, die uns verzaubern, wann immer wir
    an sie zurückdenken, ganz gleich, wie viel Zeit darüber hingegangen ist, ganz gleich, wie sich
    unser Leben gestaltet hat. Ich glaube, das so Besondere an jenem Nachmittag war natürlich der
    Umstand, praktisch eine Liebeserklärung bekommen zu haben - denn als solche empfand ich Chads
    Bemerkung über meine Augen, und tatsächlich sollte sich in der folgenden Zeit zeigen, dass er
    die Gefühle, die ich schon so lange in stiller Schwärmerei für ihn hegte, endlich erwiderte. Im
    Nachhinein aber weiß ich, dass es mehr war als nur das, mehr als nur eine romantische Begegnung
    zwischen einem Jungen und einem Mädchen am Strand. Es war - aber das konnte ich damals noch
    nicht wissen - einer der wenigen intensiven Moment zwischen Chad Beckett und mir, die noch
    unter dem Vorzeichen der Unschuld standen. Ich meine das buchstäblich. Wir hatten uns noch
    nichts zu Schulden kommen lassen.
    Das sollte sich ändern, und ich bin mir heute sicher, dass eine gemeinsame Lebensgeschichte,
    wie sie ohne Zweifel möglich gewesen wäre, daran gescheitert ist.
    An unserer Schuld.

DIENSTAG, 14. OKTOBER
    Sie wachte auf, weil der Wecker klingelte, und
    sie brauchte ein paar Sekunden, um zu realisieren, dass das nicht sein konnte, weil sie in
    Scarborough war und nicht in ihrer Londoner Wohnung, und dass sie hier überhaupt keinen Wecker
    hatte. Sie musste etwas geträumt oder sich eingebildet haben. Zum al es still war um sie
    herum.
    Sie setzte sich im Bett auf Draußen war der Tag
    angebrochen, und sie sah Nebel, der gegen das Fenster drückte. Die Wetterpropheten hatten sich
    nicht geirrt: Der Herbst brach an.
    Sie wollte sich in die Kissen zurücksinken
    lassen, da klingelte es erneut, und nun wurde ihr klar, dass jemand an der Wohnungstür sein
    musste. Sie tastete nach ihrer Uhr. Es war gleich neun. So lange schlief sie sonst nie. Mit
    leisem Schuldgefühl dachte sie an den Whisky, den sie sich gestern noch gekauft und von dem sie
    abends in Fionas Wohnzimmer reichlich getrunken hatte. Wahrscheinlich hatte der Rausch sie so
    tief und so lange schlafen lassen.
    Heute Abend nur Tee, nahm sie sich vor und hatte
    zugleich die bittere Ahnung, dass ihr dies nicht gelingen würde.
    Sie stand auf und tappte durch die Wohnung. Als
    sie am Wohnzimmer vorbeikam, sah sie durch die geöffnete Tür den Papierstapel auf dem Tisch
    liegen, den Colin ihr ausgehändigt und in dem sie den ganzen Abend über gelesen hatte. Daneben
    standen das Glas und die Whiskeyflasche. Die Stehlampe brannte noch, sie hatte vergessen, sie
    auszuschalten.
    Sie drückte den Öffner für die Haustür und
    schloss die Wohnungstür auf Eine Minute später kam Stephen die Treppe herauf, ein
    übernächtigter Stephen, eine Reisetasche in der Hand, Turnschuhe an den Füßen.
    »Habe ich dich geweckt?«, fragte er.
    Sie war völlig perplex. »Ja. Nein. Eigentlich
    schon, aber das macht nichts.« Sie trat einen Schritt zurück. »Wenn du hereinkommen möchtest
    ... «
    Er trat ein, schüttelte sich ein wenig wie ein
    nasser Hund. Er trug einen Anorak, dessen Oberfläche feucht glänzte. »Ich war so lange nicht
    mehr hier und habe viel zu weit entfernt geparkt«, sagte er entschuldigend. »Unten am Spa
    Complex. Ich musste durch die Parkanlagen nach oben ...

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