Das andere Kind
Land braucht mich an der Front. Andere sterben für England! Und ich sitze hier und schere
Schafe. Kannst du dir vorstellen, was das für mich bedeutet?« Er wandte mir sein Gesicht zu. In
seinen Augen erkannte ich, dass er nicht nur wütend war. Er war auch traurig. Fast
verzweifelt.
Vielleicht ging es ihm in diesem Moment nicht
anders als mir.
»Weißt du eigentlich, was für ein Typ Hitler ist?«, fragte er. Ich hatte keine genaue
Vorstellung. »Nicht so richtig ... «
»Er ist verrückt«, sagte Chad, »wahnsinnig. Er will die Welt erobern. Er greift jedes Land an.
Ich meine, jetzt nimmt er es sogar mit Russland auf. Das kann nur ein Irrer tun!«
»Aber dann wird es ihm ja bestimmt nicht gelingen, Russland zu erobern«, meinte ich schüchtern.
Ich wusste, dass Hitler in diesem Sommer Russland angegriffen hatte, aber ich hatte mir kaum
Gedanken darüber gemacht. Hoffentlich stand ich jetzt vor Chad nicht allzu dämlich
da.
»Stell dir mal vor, die Deutschen würden in England einfallen«, sagte Chad,
»nicht nur ein paar Bomben schicken, wobei das schlimm genug ist. Aber stell dir vor, sie wären
plötzlich da. Die Deutschen wären plötzlich da!«
Zwar glaubte ich nicht, dass ein Einmarsch der Deutschen meine augenblickliche Lage
verschlimmern könnte, nicht einmal Hitler erschien mir als eine solche Schreckensgestalt wie
das Phantom Harold Kane, aber das gab ich natürlich nicht zu.
»Das wäre schlimm«, sagte ich folgsam.
»Es wäre eine Katastrophe«, betonte Chad und fiel dann in düsteres Schweigen.
»Es ist hauptsächlich Mum, die mich blockiert«, sagte er nach einer Weile, »ich glaube, Dad
bekäme ich herum. Aber sie wird hysterisch, wenn ich nur davon anfange, dass ich in den Krieg
möchte!«
»Sie hat Angst um dich.«
»Angst! Ich bin so gut wie erwachsen. Es wird Zeit, dass sie aufhört, Angst um mich zu haben.
Soll sie doch Nobody drücken und küssen und mit ihrer Fürsorge ersticken. Bei mir passt das
nicht mehr. Ich muss meinen eigenen Weg gehen. Meiner eigenen Überzeugung folgen! «
Ich fand, dass es sehr gut klang, was er sagte. Wie immer beeindruckte er mich ungeheuer.
Trotzdem wollte auch ich ihn nicht im Krieg wissen. Natürlich nicht, auf keinen Fall, aber ich
hütete mich, das zu sagen. Er sollte in mir eine Verbündete sehen, nicht die jüngere Ausgabe
seiner ängstlichen Mutter.
»Gelegentlich«, sagte ich, »läuft es im Leben eben nicht so, wie man es gern hätte.«
Nicht dass ich gemeint hätte, dies sei eine besonders geistreiche Bemerkung. Aber es schien mir
schlicht die Wahrheit zu sein.
Chad sah mich an. »Aber man muss das ja dann nicht hinnehmen«, entgegnete er. »Manchmal schon.«
Ich wedelte mit dem Telegramm in meiner Hand.
»Manchmal ist man vollkommen hilflos.« Er sah mich immer noch an. Irgendetwas hatte sich
verändert. Sein Blick war auf einmal ein anderer ... Er ... ja, er betrachtete mich, als sehe
er mich zum ersten Mal bewusst. »Du hast schöne Augen«, sagte er, und es klang fast
überrascht.»Ehrlich, so besonders. Mit goldenen Flecken darin.« Ich habe grüne Augen mit ein
bisschen Braun darin. Braun, nicht Gold.
Vielleicht veränderte das Licht die Farbe, oder er sah, was er sehen wollte, ich weiß es nicht.
Aber für mich war es, als stünde die Welt plötzlich still. Als verharrten die Wellen, als
verstummten die Möwen, als halte der leise Sommerwind inne. Mein Mund war plötzlich ganz
trocken, und ich musste schlucken. Das Telegramm mit seiner Nachricht, die mich so erschüttert
hatte, war auf einmal gleichgültig geworden.
»Ich ... «, begann ich schließlich und hatte nicht die geringste
Vorstellung, was ich sagen sollte. »Danke«, brachte ich heraus und dachte, dass ich wirklich
keine Ahnung vom Leben hatte. Was sagte man in einem solchen Moment? Danke, das klang nach einem Schulmädchen, aber etwas anderes
war mir beim besten Willen nicht eingefallen.
Er wird mich für eine kleine Idiotin halten, dachte ich deprimiert, und der besondere Moment,
da die ganze Welt um mich herum den Atem angehalten hatte, verflog so rasch, wie er gekommen
war - für ein Mädchen, dem es die Sprache verschlägt, wenn ein Mann ihm etwas Schönes
sagt.
Aber er betrachtete mich noch immer mit jenem veränderten Ausdruck, und es war etwas in seinem
Blick, das mir die Hoffnung vermittelte, er sehe nicht mehr nur ein Schulmädchen vor
sich.
Er griff nach dem Telegramm. »Gib mal her«, sagte er.
Mit ein paar raschen
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