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Das andere Kind

Titel: Das andere Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Das andere Kind
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so lange bearbeiten, bis sie einem solchen Vorhaben
    zustimmte.
    Ich war so versunken in meine düsteren Gedanken, zu sehr damit beschäftigt zu weinen und zu
    hadern, dass ich das Näherkommen eines anderen Menschen nicht sofort bemerkte. Erst als ich
    plötzlich aus den Augenwinkeln eine Bewegung neben mir wahrnahm, blickte ich erschrocken
    auf.
    Es war Chad. Er stand ein paar Schritte von mir entfernt und schien keineswegs erfreut, mich zu
    sehen.
    »Du bist hier?«, sagte er gedehnt. »Ich dachte, ich könnte hier allein sein.«
    »Ich komme oft hierher«, gab ich zu.
    Zum Glück wirkte er nicht verärgert. »Verstehe. Guter Ort um sich auszuheulen,
    wie?«
    Ich kramte ein Taschentuch hervor und putzte mir die Nase, aber mir war klar, dass ich rote,
    verquollene Augen und ein fleckiges Gesicht hatte und wahrscheinlich so hässlich aussah wie
    kaum je zuvor.
    »Meine Mum hat wieder geheiratet«, sagte ich und wedelte mit dem Telegramm in meinen
    Händen.
    Er wiederholte: »Verstehe.« Dann blickte er sich argwöhnisch um. »Ist Nobody hier irgendwo in der
    Nähe?«
    Der hätte mir gerade noch gefehlt!
    »Den habe ich abgehängt. Keine Sorge, allein traut er sich nicht hierher.«
    Chad machte ein paar zögernde Schritte auf mich zu. Sicher wäre er lieber allein gewesen, aber
    irgendetwas hielt ihn davon ab, mich einfach wegzuscheuchen wie eine lästige Fliege. So hatte
    er es am Anfang immer gemacht. Aber jetzt war ich zwölf. Ein zwölf jähriges Mädchen konnte man
    nicht mehr so herablassend und unhöflich behandeln. Bei diesem Gedanken begann ich mich ein
    wenig besser zu fühlen.
    »Ekelhafter Typ?«, fragte Chad und deutete auf das Telegramm.
    Ich schluckte. Bloß nicht schon wieder weinen.
    »Ich kenne ihn gar nicht«, musste ich gestehen, »Mum und er sind sich erst begegnet, als ich schon hier bei euch war. Und seitdem war
    ich ja nicht mehr in London.« »Sie hätte ihn mitbringen können, als sie dich besucht hat. Falls
    sie ihn da schon kannte.«
    »Er hatte keine Zeit. Er leistet kriegswichtige Arbeit.« Wenigstens etwas, worauf man bei
    Harold vielleicht ein wenig stolz sein konnte.
    Chad schien kriegswichtige Arbeit nicht gerade für ein Ruhmesblatt zu halten, denn er blies die
    Backen auf und gab ein verächtliches Schnauben von sich. »Wie mein Vater! Mit der blöden Farm!
    Kriegswichtige Arbeit! Im Krieg gibt es für einen Mann nur einen Platz, und das ist die
    Front!«
    Mir lief es kalt den Rücken hinunter bei seinen Worten, aber zugleich war ich auch ziemlich
    beeindruckt. Es klang so mutig, wie er das sagte, so entschlossen. Chad war in diesem Sommer
    mit der Schule fertig geworden und musste nun seinem Vater mit verstärktem Einsatz auf der Farm
    helfen, eine Tätigkeit, die ihm wenig Spaß machte und derentwegen er mit Arvid immer wieder
    aneinandergeriet. Ich hatte vier Wochen zuvor ein Gespräch zwischen Arvid und Emma belauscht.
    Emma hätte es gern gesehen, wenn Chad auf eine höhere Schule und vielleicht später zur
    Universität gegangen wäre.
    »Das kann er schaffen!«, hatte sie fast flehentlich gesagt. »Seine Lehrer meinen das auch. Er
    hat gute Noten.«
    Sie war bei Arvid damit jedoch abgeblitzt.
    »Höhere Schule! Universität! Wozu das denn? Der Junge erbt die Farm, und um die zu führen,
    braucht er keine besonderen Schulabschlüsse. Der wächst in seinen Beruf hinein, und eines Tags
    übergebe ich ihm das alles. Er kann sich glücklich schätzen. Wer bekommt denn schon einen
    solchen Besitz praktisch hinterhergeworfen?«
    Im Augenblick allerdings hatte ich den Eindruck, dass es Chad nicht in erster Linie um den
    Besuch einer weiterführenden Schule ging. Seine Ziele lagen woanders, und das fand ich
    beunruhigend.
    »Ich habe gerade mit meinen Eltern gesprochen«, sagte er. Seine Wangen waren gerötet, und
    wahrscheinlich kam das nicht nur vom Klettern durch die Schlucht. »Ich bin sechzehn, ich könnte
    mich melden, wenn Dad mir die Erlaubnis gäbe! Ich verstehe nicht, weshalb er sich weigert!« Er
    ließ sich endlich neben mir auf dem Felsen nieder, griff nach ein paar kleinen Kieselsteinen
    und schleuderte sie wütend ins Meer.
    »Melden? Du meinst. .. ?« »An die Front natürlich. Ich möchte kämpfen. So wie die anderen!« »Es
    gibt aber nicht so viele Sechzehnjährige, die schon in den Krieg ziehen«, gab ich zu bedenken.
    »Manche tun es«, beharrte er. Wieder warf er Steine. Ich hatte ihn selten so zornig
    erlebt.
    »Dein Vater braucht dich auf der Farm.«
    »Mein

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