Das andere Kind
Wortspiel war unabsichtlich
gewesen, aber Leslie griff es auf »Mordswut. Das passt irgendwie nicht. Er war wütend, ja. Aber
dass er sie deswegen töten würde ... ich kann es mir nicht vorstellen.«
»Was ist er für ein
Mensch?«
»Undurchsichtig. Aber nicht so,
dass man ihm ein Verbrechen zutrauen würde. Eher genau in der Richtung, die Fiona vermutet hat.
Er treibt möglicherweise wirklich ein unehrliches Spiel mit Gwen. Er sieht gut aus, ist der Typ
Mann, auf den die jungen Frauen in Scharen fliegen, und krebst am Existenzminimum entlang.
Gwen, genau genommen die Beckett-Farm, ist eine echte Chance für ihn.«
»Ein Mann, der sie heiratet,
mit dem sie Kinder haben kann, ist auch eine echte Chance für Gwen«, meinte Stephen
nachdenklich. »Ich meine, es ist nicht die klassische romantische Geschichte, aber trotzdem
könnte diese Liaison einen Gewinn für beide darstellen.«
»Wenn er es schafft, dauerhaft
auf die verlockenden Angebote schöner Mädchen zu verzichten«, sagte Leslie, und spitz fügte sie
hinzu: »Und wir beide wissen nur zu gut, wie schwer das den Männern manchmal fällt.«
Stephen schien etwas erwidern
zu wollen, unterließ es jedoch.
Nach einer Weile wies er
hinüber zu dem kleinen Tisch, auf dem die Computerausdrucke, das Glas und die Flasche ein
deutliches Bild von Leslies vergangenem Abend zeichneten. »Spannende Lektüre?«, fragte
er.
»Fionas Lebensgeschichte. Oder
zumindest ein Teil davon offenbar. Sie hat sie für Chad aufgeschrieben und ihm per E-Mail
geschickt. Es war wohl nur für ihn bestimmt, aber Gwen hat das Passwort enträtselt und sich
alles ausgedruckt. Colin Brankley hat mir die Seiten gegeben. Er tat sehr geheimnisvoll, aber
bislang ist mir noch nicht ganz klar, weshalb. Fiona beschreibt ihre Evakuierung im Krieg aus
London, ihr Leben auf der Beckett-Farm. Davon hat sie mir auch oft erzählt. Neu ist, dass sie
wirklich in Chad verliebt war, was ich allerdings ohnehin immer vermutete, und dass es so etwas
wie eine Beziehung zwischen ihnen gab. Weiter bin ich noch nicht vorgestoßen.«
Sie zuckte die Schultern. »Wie
du unschwer erkennen kannst, habe ich meinen Kummer gestern im Alkohol ertränkt, und irgendwann
habe ich nichts mehr von dem aufgenommen, was ich las.« Sie überlegte. Irgendetwas schälte sich
aus dem Dickicht ihrer alkoholgetrübten Erinnerungen, ein Begriff ...
»Schuld«, sagte sie, »sie
deutet eine Schuld an, die sie und Chad auf sich geladen haben. Aber davon habe ich noch nichts
gelesen.«
»Welche Form von Schuld könnte
das sein? Hast du eine Vermutung?«
»Eigentlich
nicht. Das Einzige, was ich mir vorstellen kann, ist, dass Fiona und Chad eine Beziehung
unterhielten, auch als Fiona bereits mi t meinem Großvater
verheiratet war und Chad schließlich mit seiner Frau. Allerdings ...
Sie schreibt, dass ein gemeinsames Leben zwischen Chad und ihr durch
eine Schuld verhindert wurde; das bedeutet, es kann eigentlich
nichts mit ihren späteren Lebenspartnern zu tun gehabt haben!« Sie runzelte die Stirn. »Habe
ich dir erzählt, dass Fiona seit einiger Zeit anonyme Anrufe bekam?«
»Nein. Welcher
Art?«
»Schweigen. Atmen. Nichts
weiter. Sie hat niemandem etwas davon gesagt, nur Chad. Am Abend ihres Todes. Die Anrufe müssen
sie sehr bedrückt haben.«
»Hat sie Chad gegenüber
einen Verdacht geäußert, wer ... «
»Nein.Sie hatte wohl
keine Ahnung.«
Stephen setzte seine
Kaffeetasse ab, neigte sich vor und sah Leslie sehr ernst an. »Leslie, ich denke, dass diese
Geschichte dort«, er machte eine Kopfbewegung zu dem Tischchen mit den Computerausdrucken hin,
»in die Hände der Polizei gehört. Es mag sich ein entscheidender Hinweis, ein Schlüssel darin
verbergen.«
»Bislang ist es nur eine
Lebensgeschichte. Eine Liebesgeschichte.«
»Sie schreibt von
Schuld.« »Aber ... «
»Spiel es nicht herunter.
Sie schreibt von Schuld. Sie erhält anonyme Anrufe. Sie wird schließlich ermordet. Das
bedeutet, dass alles, was in irgendeiner Weise Einblick in Fionas Leben geben kann, der Polizei
zugänglich gemacht werden muss.«
»Die
Aufzeichnungen sind sehr persönlicher Natur, Stephen. Selbst ich als ihre Enkelin fühle mich
nicht ganz wohl beim Lesen. Es sind Erinnerungen, die sie nur mit Chad teilen wollte. Nun
kennen b ereits Gwen,Jennifer und Colin sie. Demnächst auch noch ich. Ehrlich gesagt, ich bin etwas böse auf Gwen, dass sie
herumspioniert hat. Vor allem hätte sie Jennifer
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