Das andere Kind
ihm
Schmerz zufügen konnte, gab ihr dies ein Gefühl der Befriedigung, von dem sie aber, noch
während sie es genoss, schon wusste, dass es nach kurzer Zeit in sich zusammenfallen und sie in
einer tiefen Leere zurücklassen würde. Die Möglichkeit, ihm wehzutun, vermochte letztlich ihre
eigene Verletztheit, ihr zerbrochenes Vertrauen, die Enttäuschung, die er ihr zugefügt hatte,
nicht zu lindern. Sie erreichte eine kurze Betäubung, mehr nicht.
Sie war allein nach Hull gefahren, um in der dortigen Gerichtsmedizin die Leiche ihrer
Großmutter zu identifizieren. Keine Sekunde lang hatte sie die Hoffnung gehegt, alles könnte
sich als ein Irrtum herausstellen, eine fremde Tote würde vor ihr liegen, und Fiona würde Tage
später von irgendeiner Kurzreise zurückkehren und sich über die Aufregung wundern, die ihr
Verschwinden daheim ausgelöst hatte.
Sie hatten ihre Großmutter gut hergerichtet. Von den bösen Verletzungen an ihrem Kopf war kaum
etwas zu sehen.
Sie sah nicht friedlich aus, wie man es von den Toten immer erhoffte, aber auch nicht gequält.
Eher ein wenig gleichgültig. Selbst ihrem eigenen Tod, hatte Leslie gedacht, begegnet sie noch
kühl und irgendwie von oben herab.
Sie hatte genickt, damit bestätigt, dass es sich um ihre Großmutter handelte, und war dann
schnell hinausgegangen. Im Vorraum hatte sie sich eine Zigarette angezündet und mit zitternden
Händen hastig geraucht. Valerie Almond, die sie begleitet hatte, wollte ihr ein Glas Wasser
holen, aber Leslie lehnte ab. »Danke. Ein Schnaps wäre mir lieber.«
Valerie lächelte verständnisvoll. »Sie müssen noch Auto fahren.«
»Klar. War auch nur ein Scherz.«
Valerie hatte angeboten, sie von einem Beamten holen und wieder heimbringen zu lassen, aber
Leslie hatte das nicht gewollt. Sie fühlte sich besser, wenn sie selbstständig agierte, wenn
sie sich konzentrieren, einen Weg finden, einen Parkplatz suchen musste. Auf dem Rücksitz eines
Polizeiautos wären ihr zu viele Gedanken über ihre Großmutter gekommen, und das hatte es unter
allen Umständen zu vermeiden gegolten. »Schaffen Sie es nach Hause?«, fragte Valerie besorgt.
Leslie hasste es, schwach zu erscheinen. »Ich bin Ärztin, Inspector. Der Anblick einer Toten
wirft mich nicht aus den Schuhen«, erklärte sie. »Sie haben sehr an Ihrer Großmutter gehangen,
oder?« »Sie hat mich aufgezogen. Meine Mutter starb, als ich fünf war. Von da an war Fiona
alles für mich.«
»Woran starb Ihre Mutter?«
Leslie nahm einen Zug von ihrer Zigarette, ehe sie antwortete: »Meine Mutter war ein Hippie.
Ein Blumenkind. Ständig von einem Festival zum nächsten unterwegs. Und immer unter Drogen. Das
gehörte damals wohl einfach dazu. Haschisch, Marihuana, LSD. Dazu Alkohol. Irgendwann hat sie
einen Cocktail aus alldem erwischt, den hat ihr Körper nicht mehr verkraftet. Sie starb an
Herz-und Nierenversagen. «
»Das tut mir s ehr leid«, sagte Valerie.
»Ja«, erwiderte Leslie unbestimmt.
Nach einem Moment des Schweigens, einer Art taktvollen Abwartens nach dem Bericht über Leslies
frühen Verlust der Mutter, fragte Valerie: »Wie gut kennen Sie Jennifer Brankley?«
»Jennifer? Eigentlich gar nicht. Persönlich kennen gelernt habe ich sie überhaupt erst am
letzten Samstag, bei dieser ... Verlobungsfeier.«
»Aber Sie hatten vorher von ihr gehört?«
»Ja. Gwen erwähnte sie in ihren Briefen und Telefonaten. Sie schien sehr gut mit ihr befreundet
zu sein. Wenigstens zweimal, oft auch dreimal pro Jahr verbrachten die Brankleys ihre Ferien
auf der Beckett-Farm, und ich freute mich, dass Gwen damit ein bisschen Geld verdienen konnte.
Außerdem brauchte sie dringend eine Freundin. Gwen war ... ist ... sehr einsam.«
»Hatten Sie den Eindruck, dass sich Jennifer Brankley ein wenig als ihre
Beschützerin fühlte?« »Jennifer ist zehn Jahre älter als Gwen. Es kann schon sein, dass sie
versucht hat, sie ein wenig zu bemuttern. Worauf wollen Sie hinaus?« »Ich versuche, die
Strukturen zu verstehen und zu ordnen«, antwortete Valerie etwas vage. Leslie überlegte und
lachte dann auf. »Sie meinen aber nicht, dass Jennifer Bra nkley
meine Großmutter getötet hat? Um die Beziehung zwischen Gwen und
Dave Tanner zu retten? Als Gwens Übermutter gewissermaßen?«
»Ich meine gar nichts, Dr. Cramer. Vor allem möchte ich keinesfalls vorläufige Schlüsse ziehen.
Ich habe zwei mögliche Varianten: Entweder ist Fiona Barnes von einem Fremden ermordet
Weitere Kostenlose Bücher