Das andere Kind
war fast erleichtert, als ihr Handy klingelte, obwohl sie mutmaßte, dass es Stephen war,
der anrief und sich Sorgen machte. Wozu er gar kein Recht mehr besaß. Es war jedoch nicht
Stephen. Es war Colin Brankley. »Entschuldigen Sie, Leslie, dass ich störe ... Ich hatte in der
Wohnung Ihrer Großmutter angerufen, dort war ein Herr am Apparat, der mir Ihre Handynummer gab
... «
Sie sah keine Veranlassung, ihm zu erklären, dass es sich bei dem Herrn um ihren Exmann handelte. Eigentlich
mochte sie Colin Brankley nicht, das ging ihr in diesem Moment auf. Er war undurchsichtig.
Vielleicht sogar unaufrichtig.
»Ja?«, sagte sie deshalb nur.
»Es ist ... meine Frau macht sich Sorgen. Gwen hat heute Vormittag das Haus verlassen und ist
bisher nicht zurückgekommen.«
»Ist das so ungewöhnlich?«
»Eigentlich schon. Zumindest sagt sie immer, wohin sie geht. Wenn sie überhaupt weggeht. Schon
das ist eher selten.«
»Vielleicht ist sie bei ihrem Freund. Das wäre doch möglich?«
»Ja ... «, meinte Colin gedehnt. Es klang nicht so, als glaube er das wirklich.
»Sie wird sich mit Dave versöhnen. Das hoffe ich zumindest. Nach der verunglückten
Verlobungsfeier haben die beiden sicherlich eine Menge Klärungsbedarf.« »Ich habe keine
Telefonnummer von Dave Tanner.« Leslie wusste, dass Colin vermutlich unter dem Druck seiner
Frau stand, und dass Jennifer wiederum von ihrer Sorge um Gwen geleitet wurde, aber trotzdem
konnte sie ein Gefühl der Verärgerung nicht unterdrücken. Gwen war fünfunddreißig Jahre alt.
Sie konnte fortbleiben, solange sie wollte, ohne dass sie irgendjemandem, schon gar nicht ihren
Feriengästen, darüber Rechenschaft ablegen musste. Es ging nicht an, dass ein Colin Brankley
hinter ihr her telefonierte.
Ihre Stimme klang schärfer, als beabsichtigt, als sie sagte: »Ich habe auch
keine Nummer von Tanner. Und ich denke, es steht uns auch nicht zu, Gwen zu kontrollieren. Sie
ist alt genug, um selbst zu wissen, was sie tut.«
»Selbstverständlich. Nur, nach allem, was war ... «
» ... sehe ich noch keinen Grund, hinter ihr her zu spionieren.«
»Als Spione hatte ich Jennifer und mich allerdings nicht empfunden«, erwiderte Colin kühl und
legte ohne eine weitere Verabschiedung den Hörer auf
Er war sauer. Und wenn schon. Was hatte sie im Grunde mit den Brankleys zu schaffen?
Sie fuhr weiter, ob sie es wollte oder nicht ein wenig beunruhigt von dem Gespräch. Gwen war
erwachsen, sie hatte einen festen Freund, den sie heiraten wollte, und es wäre normalerweise
absolut nicht ungewöhnlich, dass sie einen Tag und eine Nacht von daheim wegblieb.
Normalerweise ... Was an Gwen war schon normal? Konnte man sie und ihr Verhalten mit den
üblichen Maßstäben messen?
Und war darüber hinaus die ganze Situation normal? Ein junges Mädchen war in einer einsamen
Gegend Scarboroughs brutal ermordet worden. Eine alte Frau war am Rande einer Schafweide
erschlagen worden. Zu den Verdächtigen, auf die die Polizei ein besonderes Auge geworfen hatte,
zählte Gwens Verlobter ...
Leslie war einen Moment lang versucht, rasch bei Dave Tanner vorbeizufahren. Nur schnell
vorbeischauen, feststellen, ob alles in Ordnung war. Aber wie sollte sie das
begründen?
Hallo, Gwen, wollte nur wissen, ob alles okay ist. Wir machen uns Sorgen
. ..
Das große Problem in Gwens Leben bestand in der Tatsache, dass sie nie richtig erwachsen
geworden war. Mit Dave zusammen gelang ihr dieser Schritt nun vielleicht. Sollte man das nicht
unterstützen, statt sie schon wieder wie ein kleines Kind zu behandeln?
Sie verwarf den Gedanken an einen Besuch bei Tanner und fuhr direkt zum Haus ihrer
Großmutter.
Es war schön, die Fenster der Wohnung hell erleuchtet zu sehen, das musste sie zugeben. Sie
hatte Abschied genommen von ihrer toten Großmutter, es war ein nebliger Herbstabend - eine
kalte, dunkle Wohnung hätte sehr niederschmetternd sein können. Als sie oben aufschloss, konnte
sie riechen, dass Stephen gekocht hatte. Curry, Koriander ... Es duftete warm und verlockend.
Durch die offen stehende Wohnzimmertür sah sie, dass Kerzen auf dem Esstisch brannten. Stephen
kam aus der Küche, ein Geschirrtuch um die Hüften gebunden, ein Glas Weißwein in der
Hand.
»Da bist du ja!« Einen Moment lang hatte es den Anschein, als wolle er das Glas wegstellen und
sie in die Arme nehmen, aber etwas hielt ihn zurück. So blieb er unschlüssig vor ihr stehen.
»Wie war es? Wie geht es dir?«
Sie
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