Das andere Kind
Damit hätte er gut leben,
ihrer beider sich daraus ergebende intellektuelle Reibung als interessant empfinden können. Das
Problem war, sie vertrat überhaupt keine politische Auffassung. Es war für sie völlig gleichgültig, ob Labour regierte oder die
Konservativen, und tatsächlich änderte das eine wie das andere rein gar nichts an den
Schwierigkeiten ihrer persönlichen Situation. Was vermutlich auf viele Menschen zutraf, bloß
blendeten diese dann dennoch nicht alles aus, was sich nicht in ihrem allerdirektesten Umfeld
abspielte. Es war ungewöhnlich, das zu tun. Es war fatal, dass Gwen es offenbar nicht anders
tun konnte.
»Ach, nichts«, sagte er also nur und verzichtete
damit auf einen erneuten, von vornherein zum Scheitern verurteilten
Versuch, seine zukünftige Ehefrau in sein Inneres blicken zu lassen und ihr etwas mitzuteilen
von den Gedanken, Ängsten und Verstrickungen, denen er sich ausgeliefert sah.
»Versprich mir einfach, dass du, solltest du etwas Wichtiges über Fiona wissen, dies der
Polizei mitteilst«, fugte er hinzu. Das war schließlich der Ausgangspunkt gewesen. Dass Fiona
und ihr Vater wohl irgendwann irgendeinen Mist gebaut hatten, den Gwen nun als schwer
verdaulich empfand. Konnte relevant sein.
Wahrscheinlich eher nicht, dachte er. Sie sah ihn an. Sie war schon wieder
ganz woanders. Bei ihrem Ausgangspunkt.
»Bleibst du ... bleiben wir ... ich meine ... hat sich etwas geändert?«, fragte
sie.
Jetzt, sagte seine innere Stimme, jetzt könntest du aussteigen. Mit einem einigermaßen guten
Grund. Sie wäre verzweifelt, aber sie müsste das Scheitern eurer Geschichte nicht sich selbst
zuschreiben. Alle Schuld läge bei Fiona, dem alten Drachen mit dem Schandmaul, und sie könnte
sie hassen bis in alle Ewigkeit und müsste sich nicht wegen ihrer eigenen Unzulänglichkeit
zerfleischen. Tu ihr den Gefallen. Nutze diesen gnädigen Moment.
Er konnte es nicht. Wissend, dass es das Richtige wäre, konnte er es dennoch nicht tun. Sie war
der Weg hinaus aus diesem kalten Zimmer. Aus diesem Leben am Rande des Existenzminimums. Aus
tagelangem Schlafen, nächtelangem Trinken. Aus dem Gefühl, ein Versager zu sein, der nicht mehr
auf die Beine kommen würde.
»Nein, Gwen«, sagte er mit einer Stimme, die rau war von der Anstrengung, diesen Augenblick
durchzustehen. »Nein. Es hat sich nichts geändert.«
Sie erhob sich. Sie lächelte.
»Ich möchte mit dir schlafen, Dave«, sagte sie. »Jetzt. Hier. Ich will es so sehr.«
Großer Gott, dachte er entsetzt.
Das Telefon klingelte, als Colin gerade begann, intensiv über ein Mittagessen nachzudenken. Es
war schon halb drei, und er hatte richtigen Hunger. Niemand auf der Beckett-Farm schien sich
heute für die Küche zuständig zu fühlen. Gwen war seit dem Morgen verschwunden, und keiner
wusste, wohin, und Chad hatte sich in seinem Schlafzimmer verbarrikadiert -buchstäblich, denn
die Tür war verschlossen, und auf ein vorsichtiges Nachfragen Colins hatte er nur mit einem
unwirschen Brummen geantwortet.
Detective Inspector Almond war da. Sie war
urplötzlich aufgetaucht und hatte sofort erklärt, sich allein mit Jennifer unterhalten zu
wollen. Seit einer halben Stunde saßen die beiden unten im Wohnzimmer, während Colin oben
wartete und zunehmend unruhiger wurde. Und hungriger.
Er eilte ins Arbeitszimmer hinunter, um den Anruf entgegenzunehmen. Immerhin gab ihm dies die
willkommene Gelegenheit, sich mit gutem Grund näher an die Situation im Wohnzimmer
heranzutasten.
»Ja?«, meldete er sich, während er sich gleichzeitig das Ohr verrenkte, um irgendetwas von dem
Gespräch nebenan mitzubekommen - was sich als aussichtslos erwies.
»Hallo!« Es war eine Frauenstimme am anderen Ende der Leitung, recht leise und daher nicht ganz
leicht zu verstehen. »Mit wem spreche ich denn bitte?«
»Brankley. Colin Brankley. Beckett-Farm.«
»Oh, Colin! Sie sind Jennifers Mann, nicht wahr? Hier spricht Ena. Ena Witty.«
Colin hatte nicht die mindeste Ahnung, mit wem er es zu tun hatte. »Ja?«, fragte er. »Ich ...
ich bin eine Freundin, eine gute Bekannte von Gwen Beckett. Ist Gwen vielleicht bitte zu
sprechen?« »Leider nein«, sagte Colin, »Gwen ist nicht zu Hause. Kann ich ihr etwas
ausrichten?«
Ena Witty schien durch diese Auskunft aus dem Konzept gebracht. »Sie ist weg?«, fragte sie fast
ungläubig.
»Ja. Soll sie zurückrufen?«
»Ja. Es ist ... ich müsste sie in einer wichtigen Angelegenheit
Weitere Kostenlose Bücher