Das andere Kind
Beispiel, oder sonst irgendetwas vorhabe. Dass das aber selten der Fall
ist.«
»Richtig. Und das tun ja wohl eine ganze Menge Menschen. Hör mal, sie hat überhaupt kein Recht,
solche Dinge zu fragen. Und du musst ihr darauf auch nicht antworten. Das alles geht sie gar
nichts an.«
»Sie hat mir nicht geglaubt«, flüsterte Jennifer. »Was hat sie nicht geglaubt?«
»Dass ich ... eigentlich ganz normal lebe. Sie hat mich so eigenartig angesehen. Ich glaube,
sie möchte mir unbedingt ein Suchtproblem anhängen, weil man dann ja behaupten könnte, dass ich
unberechenbar bin und vielleicht auch gefährlich. Und ihr Mitarbeiter ist schon dabei, meine
Aussage wegen Amy Mills zu überprüfen. Er erkundigt sich bei den Schulen in Leeds und bei Amy
Mills' Eltern.«
»Er wird nichts herausfinden, was sie gegen dich verwenden könnten.« »Wahrscheinlich nicht«,
sagte Jennifer, aber sie klang monoton und hoffnungslos. Colin drückte ihre Hände fester.
»Liebes, was ist los?
Was bedrückt dich so? Sie haben nichts gegen dich in der Hand, und so wird es bleiben. Lass
dich bloß nicht einschüchtern.«
Sie sah ihn an. Er konnte ihre Angst fühlen. Verdammt, war er wütend. Wütend auf diese Almond,
diese rücksichtslose Person. Denn er wusste, weshalb Jennifer so verstört war.
»Es macht dich verrückt, dass du wieder über all das sprechen musstest, nicht?«, fragte er
behutsam. »Dass es wieder einmal hervorgeholt wurde. Das hat alles aufgewirbelt. Es sind die
alten Gefühle, die dich jetzt belasten, stimmt das?«
Sie nickte. Die Depression hatte sie fest im Griff, man konnte förmlich
zusehen, wie sie von ihr gelähmt wurde. In den ersten drei Jahren nach der Geschichte war das ständig der Fall gewesen, inzwischen
hatte sie sich recht gut im Griff. Aber er hatte sich nie etwas vorgemacht: Ihre labile
Gemütslage war schnell ins Wanken zu bringen, vor allem dann, wenn es jemand gezielt darauf
anlegte.
Er hätte DI Almond wirklich erwürgen können. »Es wird nie vorbei sein«, flüsterte
sie.
»Das stimmt nicht. Es ist vorbei. Es ist vorbei, auch wenn irgendeine dumme Polizistin es
anspricht.«
»Es war mein Leben. Die Schule. Die Mädchen. Es war alles.« »Ich weiß. Du hast es so empfunden.
Aber es gibt vieles, was das Leben lebenswert macht. Nicht nur der Beruf.« »Ich ...
«
»Wir haben uns. Wir führen eine glückliche und intakte Ehe. Was meinst du, wie viele Menschen
sich das wünschen? Wir haben ein schönes Zuhause. Wir haben nette Freunde. Wir haben unsere
beiden bezaubernden, niedlichen Hunde ... « Er grinste, hoffte, er werde ihr ein Lächeln
entlocken. Sie versuchte es tatsächlich, aber es misslang.
»Na also«, sagte er trotzdem. Er streckte den Arm aus, strich ihr eine Haarsträhne aus der
Stirn. »Pass auf, ich glaube nicht, dass die Almond dich noch einmal belästigt. Sie stochert im
Nebel- buchstäblich, schau nur mal nach draußen! Sie wird mit Leeds, mit der Schule, mit Amy
Mills überhaupt nicht weiterkommen. Sie wird diesen Strang fallen lassen und sich nach einem
anderen umsehen müssen. Aber abgesehen von alldem: Du warst zur Tatzeit mit den Hunden
spazieren. Gwen hat dich begleitet, sie kann das bezeugen. Du hast das Valerie Almond doch auch
gesagt?«
Anstelle einer Antwort fragte Jennifer: »Wer hat gerade angerufen?«
Colin machte eine wegwerfende Handbewegung. »Eine Bekannte von Gwen. Ena Witty oder so ähnlich.
Ziemlich verwirrte Person. Sie hat irgendein Problem, das sie dringend mit Gwen besprechen
möchte. Schien sehr aufgeregt und verunsichert. Gwen soll sie zurückrufen.«
Jennifers Augen nahmen einen Ausdruck an, als blicke sie zurück in eine ferne Zeit. »Ach ja.
Ena Witty. Mit ihrem ausgesprochen lauten Freund. Sie war in diesem Kurs mit Gwen zusammen. Ich
habe sie letzten Freitag kurz kennen gelernt.« Sie schüttelte den Kop£
»Das ist inzwischen wie aus einer anderen Welt«, murmelte sie.
»Unsere Welt wird wieder ganz normal werden«, versicherte Colin. »Ruhig und beschaulich und
unaufgeregt. Ganz sicher.«
»Ja«, sagte Jennifer, und sie kla ng in diesem
Moment wie ein Schulmädchen, das brav seine Zustimmung zu etwas
abgibt, woran es selbst nicht im Mindesten glaubt. Sie empfand ihre Welt schon lange nicht mehr
als normal.
Natürlich hatte Stephen ihr angeboten, sie zu begleiten, er hatte sich fast aufgedrängt, und
sie hatte gespürt, wie sehr es ihn verletzte, zurückgewiesen zu werden. Wie stets, wenn sie
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