Das andere Kind
schälte sich aus ihrem Mantel. »Na ja, schön war es nicht. Und besonders gut geht es mir
auch nicht. Aber ich bin so weit okay.«
»Sicher?«
»Ja doch!« Sie nahm ihm das Glas aus der Hand, trank einen tiefen Schluck. »Gut, dass wir
eingekauft haben.«
»Ich habe dein Lieblingsessen gekocht.«
»Das ist nett. Danke.«
Er lächelte.
Sie dachte plötzlich: Wie sanft er ist. Wie bemüht.
Wie ... anbiedernd. Es wäre ohnehin schief mit uns gegangen. Er ist gar nicht der Mann, den ich
brauche. Der zu mir passt. Den ich haben will.
Diese Erkenntnis war absolut neu, blitzartig geboren in jenem Moment in der
Küch entür, und sie überraschte sie zutiefst. Stephen und Leslie, das Traumpaar fürs Leben. Gescheitert nur, weil Stephen
in einem schwachen Moment den Schmeicheleien einer fremden Frau erlegen war. Er hatte das
Unzerstörbare zerstört, davon war sie, wütend und rachsüchtig, stets
ausgegangen.
Vielleicht hatte sie sich geirrt. Vielleicht hatte er nur beschleunigt, was ohnehin passiert
wäre, auf die eine oder andere Art.
Er hatte ihr Mienenspiel beobachtet und bemerkt, dass sie innerlich stark bewegt war. »Was ist
los?«
»Nichts.« Sie schüttelte sich wie ein Hund, trank in raschen Zügen das Glas leer. Nur jetzt
nicht nachdenken, nicht darüber. Über sich und Stephen.
»War hier etwas los?«, fragte sie stattdessen.
»Ein Mr. Brankley hat angerufen. Von der Beckett-Farm. Sie machen sich dort Sorgen um Gwen. Ich
habe ihm deine Mobilnummer gegeben.«
»Ich weiß. Er hat sich gemeldet. Ich halte die Sorgen für übertrieben. Gwen liegt vermutlich
mit Dave im Bett und lässt es sich gut gehen.«
»Das wäre schön.« Er zögerte. Sie konnte spüren, dass es noch etwas gab.
»Ja?«
»Es hat noch jemand angerufen«, sagte Stephen unbehaglich.
Leslie war sofort alarmiert. »Doch nicht ... ?«
»Es war ein anonymer Anruf«, sagte Stephen. »Genau in der Art, wie du es beschrieben hast.
Schweigen. Atmen. Und dann auflegen.«
Sie starrte ihn an. »Aber Fiona ist tot!«
»Vielleicht weiß der Anrufer das nicht. Es muss nicht ihr Mörder sein.«
»Oder«, sagte Leslie langsam, „ihr Tod reicht ihm nicht. Er hat es auf uns alle abgesehen. Auf
die ganze Familie.« »Das ist doch absurd«, widersprach Stephen. Er klang nicht ganz
überzeugt.
Wann begann Emma zu kränkeln? Oder wann fiel es uns auf? Ich kann das heute gar nicht mehr
sagen. Ich hatte nur noch Chad im Kopf, und es gab im Herbst 1941 und im Frühjahr 1942 Momente,
da hätte eine deutsche Bombe mitten auf der Beckett-Farm einschlagen können, ich hätte es nicht
mal bemerkt. Ich war verliebt, heillos und heftig, und es gab nichts sonst, was mich
interessiert hätte. Ich war noch keine dreizehn Jahre alt, aber ich glaube, es gab etliche
Vorkommnisse und Besonderheiten in meiner Biografie, die mich zu einem sehr frühreifen Mädchen
gemacht hatten - wie es ja auch meine Mutter oft betont hatte. Mein trinkender Vater, unsere
ewige Geldnot, dann der frühe Tod meines Vaters, der Krieg, die Bomben, jene Nacht im
Luftschutzkeller, als das Haus über uns zusammenstürzte ... Die jähe Trennung von meiner Mutter
und zu guter Letzt das Gefühl, von ihr für einen mir völlig unbekannten Mann verraten worden zu
sein - das alles hatte mir eine Menge Kindheit genommen, hatte mir die Unschuld meiner Kindheit
geraubt. Ich fühlte mich erwachsen. Darin irrte ich natürlich, aber tatsächlich war ich wohl
reifer als meine zwölf Jahre. Mental und körperlich befand ich mich längst in der
Pubertät.
Chad und ich stahlen uns gemeinsame Zeit, wann immer sich eine Gelegenheit bot. Das war nicht
ganz einfach, denn ich musste zur Schule und verlor viel Zeit auf dem langen Weg dorthin und
zurück, und Chad wurde von morgens bis abends von seinem Vater auf der Farm eingesetzt. Aber
immer wieder gelang es uns, uns davonzumachen. Unser Treffpunkt war das karge, steinige Stück
Strand unten in der Bucht, selbst den Winter über, als wir dort ungeschützt dem Ostwind
ausgesetzt waren, der über das Meer herantobte und unsere Nasen blaufrieren ließ. Aber ich
mochte die grimmige Kälte, vielleicht auch deshalb, weil sich Chads Umarmung dann besonders
warm anfühlte und mir den Eindruck vermittelte, in einem sicheren Hafen angekommen zu
sein.
Wir hatten keinen Sex zu diesem Zeitpunkt, ich glaube, wir trauten uns beide nicht. Meine
Gefühle waren ohnehin eher romantischer Natur, ein körperliches Verlangen konnte ich bei
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