Das andere Ufer der Nacht
als er die Stimme seiner Herrin vernahm. Er winkte ihr zu. Sein Arm war für seinen Körper zu lang, aus diesem Grunde wirkte die Geste auch lächerlich.
»Schönes Sterben!« wünschte er mir noch, bevor er mit einem Satz über die Bordwand sprang, auf einem Felsen landete, sich dort zusammenduckte und weiterlief.
Die Fesseln schnitten hart in meine Gelenke. Den ersten Schmerz hatte ich überwunden, ich würde mich wahrscheinlich im Laufe der Zeit an dieses brennende Gefühl gewöhnen können, das später ebenfalls abflachte, wenn sich das Blut staute.
Den Kopf musste ich nach links drehen, um an Land sehen zu können. Der Fackelschein gab genügend Licht. Ich erkannte meine bewegungslos dastehenden Freunde und auch den Mann mit der Eisenmaske, der sich soeben in Bewegung setzte und an den Flussrand trat.
Wollte er mitfahren? Nein, seine Aufgabe war eine andere. Ich erkannte es, als er das Schwert hob und die Klinge nach unten sausen ließ. Mit einem Hieb kappte er das erste der beiden Seile. Er ging noch einige Schritte weiter und hob die Klinge zum zweitenmal. Auch hier schlug er zu.
Wie der Körper einer Schlange peitschte das Seil zur Seite, bevor es fiel und zwischen die Felsen klatschte.
Die Strömung erfasste die Knochenbarke, drückte sie vom Ufer weg, und ich hörte die gellende Stimme der Senora Marquez. »Gute Reise in den Tod, John Sinclair…«
Auf eine Antwort verzichtete ich, weil ich mich auf die Fahrt konzentrieren wollte. Die Senora war für mich längst zur Vergangenheit geworden. Aber ihre Tochter nicht.
Ich merkte schon, dass die Knochenbarke am Heck einen Treffer abbekam und dort tiefer sackte. Allerdings achtete ich nicht darauf, bis ich eine Gestalt sah, die sich vor mir aufbaute.
Es war Viviana! Und sie sagte einen Satz, der mich mittelschwer überraschte. »Ich werde mitfahren…«
Wahrscheinlich stand mir vor Staunen der Mund offen, anders konnte ich mir ihr Lachen nicht erklären, und sie kostete jeden Augenblick aus, das sah ich ihr an.
»Hast du etwas dagegen?«
Wasser spritzte mir ins Gesicht. Das Boot hatte sich ein wenig gedreht, und auch Viviana konnte sich nicht auf den Beinen halten. Sie war gezwungen, sich zu setzen, und ließ sich auf eine Sitzbank fallen. Vom Ufer her hörte ich die Schreie der Senora. Es war ihr wohl nicht recht, dass ihre Tochter ebenfalls an der Reise teilnahm, denn gerade sie wollte die Frau zurückhaben, um den Fortbestand der Familie sichern zu können. Jetzt war einiges in Frage gestellt worden. Ich schaute auf das sitzende Mädchen. Gischtwasser umsprühte sie wie dichter Tropfennebel. »Ich habe auf diesem Schiff nichts zu sagen. Es ist allein deine Entscheidung.«
»Ja, das ist es.« Sie wischte Wasser von ihrem Gesicht, hob den Blick und sah mich genau an.
Vor der Mündung einer MPi fühlte ich mich in der Regel wohler, als unter den sezierenden scharfen Blicken des dunkelhaarigen Mädchens. Jeden Zoll meines Körpers maß sie ab, ließ nichts aus und schaute sehr genau hin, als wollte sie mich röntgen.
Mir wurde mulmig. Ich dachte an den ersten langen Blick, den sie mir an Land zugeworfen hatte. Auch der hatte mir schon nicht gefallen, dieser hier noch weniger. Zudem waren wir allein.
»Du gefällst mir!« rief sie plötzlich.
»Du mir auch«, erwiderte ich.
Sie wusste nicht, wie sie die Antwort deuten sollte, wollte lächeln, schaffte es nicht ganz und drehte den Kopf zur Seite, weil sie, ebenso wie ich, über den Fluss blicken wollte.
Ich befand mich auf einem schwarzen Gewässer. Und trotzdem war es nicht völlig dunkel, weil in den Felsen noch Fackeln hingen, die hin und wieder ihre roten Lichtreflexe über uns, das Boot und das wellige, schaumige Wasser warfen. Weiter vorn aber, dort würde uns die Strömung hintreiben, lauerte die Finsternis.
Die Strömung war schnell und kraftvoll. Dementsprechend rasch wurden wir vorangetrieben. Gischt und Strudel umschäumten die Bordwand. Manchmal, wenn wir über blanke Felsen streiften, kippte das Boot auch zur Seite weg, auch schäumte hin und wieder Wasser über, das sich auf den Knochenplanken aber rasch verlief.
Noch war nichts davon zu sehen, dass wir auf der anderen Seite des Flusses und damit im Jenseits landen würden. Nach wie vor trieb uns die Strömung in die eine Richtung.
Ich blickte so weit nach vorn, wie es eben möglich war, und sah noch einen leuchtenden Punkt. Es war die letzte Fackel in der Reihe. Sie steckte schräg in einem Felsspalt, und die Flamme brannte fast
Weitere Kostenlose Bücher