Das andere Ufer der Nacht
unterirdischen Flusses an Land spülen, vielleicht als Toten. Von der Seite her trat die Senora auf mich zu. Sie hatte einen Bogen geschlagen, blieb stehen, starrte mir ins Gesicht und sagte mit lauter Stimme, um gegen das Rauschen des Wassers anzukommen. »Du brauchst keine Sorge zu haben. Wenn du in ruhiges Gewässer gerätst, wird dich die Strömung an das andere Ufer der Nacht treiben. Es ist alles perfekt ausgeklügelt.«
»Da bin ich ja beruhigt«, erwiderte ich spöttisch. Sie zog sich wieder zurück. Ich stieg auf einen höheren Felsen. Es war quasi der letzte, bevor ich mit einem weiteren Schritt an Bord der Knochenbarke gehen konnte.
Zögernd setzte ich den Fuß auf. Das Boot schwankte sehr und wirkte arg zerbrechlich. Es täuschte.
Durch den heftigen Stoß in den Rücken wurde ich nach vom geworfen und war gezwungen, das Boot schneller zu betreten, als ich wollte. Ich drehte mich dabei und fiel auf eine Sitzbank.
Den Stoß hätte ich dem Zwerg zu verdanken, dem es nicht schnell genug ging. »Glaub nur nicht, dass du hier etwas verzögern kannst«, sprach er mit böser Stimme.
»Das hatte ich nicht vor!«
Er stellte sich geduckt und breitbeinig hin. Seinen Morgenstern ließ er pendeln. Die Metallnägel an der Kugel glitzerten gefährlich, wenn sie in meine Nähe gerieten. »Am liebsten würde ich ihn dir durch dein Gesicht ziehen, aber die Senora hat anders befohlen. Leider.« Er schüttelte sich.
»Steh jetzt auf!«
Ich tat ihm den Gefallen, auch wenn ich große Mühe hatte und meine Arme spreizen musste, um das Gleichgewicht zu halten.
»An den Mast!« Die Stimme des Zwergs schrillte. Er stand unter einem ungemein starken Druck und konnte es kaum erwarten, mich festzubinden.
Auf der schwankenden Knochenbarke bewegte ich mich voran. Eine Welle trieb das festgetäute Boot in die Höhe, drückte mich nach vorn, so dass ich gegen den Mast fiel und mich daran festklammern konnte. Gleichzeitig wunderte ich mich über die Festigkeit der Knochen. Nun war ich sicher, dass die Barke nicht brach und die Planken aus Gebeinen mein Gewicht halten würden.
Um den Knochenmast ging ich herum, bis ich ihn im Rücken spürte.
Es war nicht das erstemal, dass ich an einen Mast gebunden wurde. Beim Hexenschiff war es mir ebenfalls so ergangen, nur hatte man mich noch nicht an einen Knochenmast gefesselt. Das geschah nun.
Woher der Zwerg die dünnen, aber reißfesten Stricke hatte, wusste ich nicht. Er stand jedenfalls vor mir, hatte den Morgenstern abgelegt, schielte und grinste mich böse an, während er ein Stück des Fesselseils zwischen den Händen spannte, als wollte er mir demonstrieren, wie gering meine Chancen letztendlich waren.
»Fang endlich an!« sagte ich.
Sein Grinsen verschwand. Er mochte es wohl nicht, wenn man ihm die Schau stahl. »Hände auf den Rücken und hinter den Mast legen!«
»Gern!« Ich lachte sogar noch, was ihn wütender machte. Wie ein Springball hüpfte er an mir vorbei, geriet in meinen Rücken, packte meine Hände rauh an, legte sie über Kreuz und drückte sie gegen den Knochenmast. Dann erst fesselte er mich.
Ich hatte ihn unterschätzt. Natürlich wusste ich, dass er voller Hass steckte und auch sehr gefährlich war, aber er konnte auch Menschen fesseln, was auf eine lange Übung schließen ließ.
Ich hatte Mühe, einen Aufschrei zu unterdrücken und biss die Zähne zusammen. Der Zwerg redete mit sich selbst, wobei er hin und wieder durch ein hohes Kichern seine eigenen Sätze unterbrach. Er war in einen regelrechten Rausch geraten. Das Seil hatte er geschickt verschlungen, aber es reichte ihm noch nicht. Er zerrte es zurück. Da es mittlerweile schon mit mir Kontakt besaß, wurde auch ich noch härter gegen den Knochenmast gepresst, der leider nicht brach. Der Zwerg, dessen Namen ich nicht einmal kannte, drehte die Reste des Fesselseils noch zweimal um meine Gelenke. So war gewährleistet, dass ich mich aus eigener Kraft nicht befreien konnte. Ich hörte seine Schritte, als er um den Mast herumging. Auf den Knochenbohlen bekamen sie einen hohlen Klang, der in meinen Ohren hallte und auch das Rauschen der Strömung übertönte. Das Gesicht des Zwergs war vom Sprüh der Gischt nass geworden. Wassertropfen rannen wie kleine Perlen über seine Wangen. Er wischte sie mit einer knappen Geste weg.
»So«, sagte er, »das habe ich geschafft. Du wirst an das andere Ufer der Nacht gebracht…«
»Komm zurück!«
Der Zwerg zuckte zusammen, brach mitten im Satz ab und drehte sich,
Weitere Kostenlose Bücher