Das andere Ufer der Nacht
gebückten Haltung in die Höhe. Es fiel ihr sehr schwer, sie atmete tief ein und starrte über den Fluss, wo die Knochenbarke bereits nicht mehr zu sehen war.
Suko schlug etwas vor. »Wir könnten versuchen, Ihre Tochter wieder zurückzuholen.« Er und Bill warteten gespannt auf eine Reaktion, vorerst vergeblich. »Haben Sie nicht gehört?«
»Ja, ich habe gehört.« Die Senora fuhr herum. »Ich habe dich sogar sehr genau gehört, aber ich werde nicht zustimmen. Sie hat gewählt, und dabei bleibt es.«
»Ich möchte das bezweifeln. Ihnen wird es nicht egal sein, sie als Tote zu sehen. Schließlich haben Sie Ihre Tochter zur Nachfolgerin bestimmt, damit Ihr Geschlecht nicht ausstirbt. Wollen Sie wirklich, dass eine Tote zurückkehrt?«
Die Spanierin ging auf Sukos Worte nicht ein. Sie redete mehr mit sich selbst, als sie sagte: »Es war ein Wahnsinn. Sie versuchte es, sie will es unter allen Umständen wissen, und dabei tut sie genau das Falsche. Nicht dieser Mann, nicht dieser Blonde…«
Allmählich begriffen Suko und Bill die gesamte Tragweite der Bemerkung. Wäre es den beiden möglich gewesen, sie hätten sicherlich die Hände vor das Gesicht geschlagen.
Weder Bill noch Suko redeten darüber, aber ihre Blicke sprachen Bände. Die Marquez nahm ihnen die Antwort ab. »Sie ist ihm nur deshalb gefolgt, weil sie von ihm ein Kind haben will. Sie ist wie ich, nur wird ihres, wenn überhaupt, dort geboren werden, wo für die anderen Menschen das Jenseits oder die Hölle ist…«
***
Obwohl die Dunkelheit so schlagartig über der Knochenbarke und damit auch über uns zusammengefallen war, stand das letzte Bild, das ich im schwachen Schein der Fackeln gesehen hatte, noch immer vor meinen Augen.
Ein junges Mädchen, das bis auf eine lendenschurzartige Hose nackt gewesen war.
Ein Traum? Ein Wunschbild? Nein, Realität, denn ich spürte, dass ich von Viviana angefasst wurde und sie sich auch gegen mich lehnte. Wieder waren es die tastenden und suchenden Hände, die über meinen Körper glitten, wobei sich ihr Kopf so drehte, dass ihr kleines Kinn mit seiner Abrundung meine linke Schulter berührte.
Noch ein winziges Stück drehte sie ihren Kopf weiter, so dass sich ihre Lippen direkt an meinem Ohr befanden. »Du weißt, weshalb ich zu dir gekommen bin?« hörte ich ihre geflüsterte Frage und spürte gleichzeitig das Beben des jungen Körpers.
»Nein«, log ich.
Sie sagte nichts, wartete nur ab, ob ich noch etwas hinzufügen wollte, doch da irrte sie. Sie musste aus der Reserve, denn ich wollte den Plan aus ihrem Munde erfahren, obwohl ich mir sehr gut vorstellen konnte, weshalb sie auf die Totenbarke gekommen war.
Sie hatte sich einen Mann ausgesucht, der mit ihr ein Kind zeugen sollte, um das Geschlecht der Marquez fortzuführen. Und ausgerechnet mich hatte sie in die engste Wahl gezogen.
Nicht, dass mir Viviana nicht sympathisch gewesen wäre, sie war wirklich eine Person, der man nur schwer widerstehen konnte, wenn sie es einmal darauf angelegt hatte. Aber nicht mit mir, nicht in dieser Situation und nicht auf einer aus Knochen bestehenden Barke.
»Es sind vier, die meiner Mutter zur Seite stehen. Sie gehorchen ihr. Sie hält große Stücke auf sie, aber ich bin nicht meine Mutter. Ich mag sie nicht, diese Bauernlümmel, verstehst du? Ich will einen anderen Mann als Vater meines Kindes haben.«
Trotz dieser für sie todernsten Situation konnte ich mir ein Lachen nicht verbeißen. »Und da hast du dir ausgerechnet mich ausgesucht, Viviana?«
»Wen sonst?«
»Das geht doch nicht. Denk daran, in welch einer Lage wir sind. Ich an einen Mast gefesselt…«
»Was nicht zu sein braucht!«
»Willst du mich befreien?«
»Ja, ja!« sagte sie. »Ich werde alles tun, damit unser Geschlecht bestehen bleibt. Wir haben zu büßen, wir werden büßen und unsere Männer dem Jenseits opfern, damit wir leben können. Die lange zurückliegende Inquisition verlangt auch heute noch Opfer. Wir sind bereit, sie zu zahlen. Noch nie haben wir uns davor gedrückt. Noch nie!«
Sie hatte sehr schnell und hektisch gesprochen, ein Beweis dafür, unter welch einem inneren Druck sie stand. Natürlich müsste ich über das Angebot nachdenken, das sie mir wegen meiner Fesseln gemacht hatte. Ich würde erst einmal auf ihr Angebot eingehen und dafür sorgen, dass sie mir die Fesseln löste. Danach sahen wir weiter.
»Oder magst du mich nicht?« fragte sie plötzlich.
»Schon - ja, du bist sehr nett!«
»Dann zeige dich
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