Das Antlitz der Ehre: Roman (German Edition)
benötigten, und davon, wie sie vorbereitet werden mussten, dass sich die Komponenten der komplizierten Pillen später gut verkneten lassen würden.
Elisabeth hörte aufmerksam zu, um sich die Anweisungen genau zu merken. Sie durfte keinen Fehler machen. Er sollte sie loben und stolz auf ihre Fingerfertigkeit und ihren scharfen Verstand sein.
Nach und nach legte sich ihre Nervosität, und gegen Mittag konnte sie die Arbeit wieder genießen. Allerdings war sie eifrig darauf bedacht, ihm nicht zu nahe zu kommen und jede Berührung zu meiden, so, als könne sie sonst für alles Weitere, was daraufhin geschehen würde, nicht mehr garantieren.
Später am Nachmittag traf sie Gret alleine an, die gerade die Treppe schrubbte. Elisabeth vergewisserte sich, dass wirklich niemand sonst in der Nähe war, dann ließ sie sich auf die oberste Stufe sinken und stützte den Kopf in ihre Hände. Gret sah von ihrer Arbeit auf.
»Was gibt es?«
»Die reine, geistige Liebe ist die bessere!«, stieß sie hervor. »Sie bringt das Beste der Menschen an die Oberfläche und führt sie zusammen. Dieses körperliche Verlangen kann uns nur der Teufel schicken!«
Gret zog eine Grimasse. »Ach ja? Zu dem Ergebnis hat dich dein Grübeln geführt?«
Elisabeth nickte ruckartig. »Ja, diese Lust verwirrt einem den Verstand und lässt sündige Gedanken aufsteigen, die sich nicht mehr verdrängen lassen. Sie beherrschen uns so
sehr, dass wir uns nicht einmal mehr normal verhalten können. Wir sind nur noch dumm und sprachlos und denken an Dinge, die einem die Schamesröte ins Gesicht steigen lassen. Nein, das kann keine Liebe sein, die von Gott gesandt wird. – Was? Was grinst du so unverschämt?« Elisabeth sprang auf und stampfte mit dem Fuß.
Gret kicherte. »Ich finde es nur komisch, dass du, die auf eine solch schwarze Vergangenheit blicken muss, vor Scham noch erröten kannst.«
»Du machst dich über mich lustig!«
Gret nickte und wischte sich die Augenwinkel. »Ja, und wenn du ein wenig Abstand zu der Sache hast, dann wirst du die Lächerlichkeit ebenfalls erkennen. Eigentlich würde ich dir gerne gratulieren, denn deine Worte verraten mir, dass du plötzlich weißt, wovon ich spreche. Ich will auch nicht neugierig fragen, wer es ist und woher diese Gefühle so unvermittelt aufgetaucht sind. Ja, vielleicht bist du endlich wachgerüttelt worden. Nun müssen wir dich nur noch von dieser blödsinnigen Sünden- und Teufelsvorstellung befreien. Denn wie sollst du jemals dein Verlangen ausleben und deine Lust genießen, wenn du weiterhin meinst, der Teufel würde sie dir eingeben?«
»Spare dir deinen Spott!«
Gret seufzte, stieg die Treppe hinauf und legte Elisabeth den Arm um die Schulter. »Es ist kein Spott. Dies ist mein völlig ernster Wunsch, dich von den Schranken zu befreien, die deinen Geist und dein Gefühl gefangen halten.«
»Du meinst also, wenn man ein Verlangen spürt, soll man ihm nachgeben? Einfach so, ohne auf die Gesellschaft, die Stellung und den Rang Rücksicht zu nehmen? Einfach dem Ruf der Natur folgen und sich um nichts kümmern, als wären wir nur Tiere?«
Gret stöhnte. »Du kannst ganz schön anstrengend sein, weißt du das? Wenn du irgendwann lernst, nicht mehr nur
schwarz oder weiß zu sehen, dann erkennst du, dass zwischen den brünstigen Tieren und den Regeln der Gesellschaft noch Luft für ein eigenes Leben ist. Möge die Heilige Jungfrau dir beistehen, dass du diese findest, und zwar bald!«
Elisabeth lachte freudlos. »Ich glaube nicht, dass sich die Heilige Jungfrau Maria für Verlangen und körperliche Lust zuständig fühlt.«
Gret schien zu überlegen. »Nein? Warum nicht? Ich stelle sie mir durchaus als Frau von Lebensfreude vor. Und zur Freude am Leben gehört auch die Lust.«
»Wie seltsam, dass ich so etwas noch in keiner Predigt gehört habe!«
Gret grinste schelmisch. »Was vermutlich daran liegt, dass irgendwann einmal von oberster Stelle beschlossen wurde, den Pfaffen die Fleischeslust zu verbieten. Wer will schon den Weibern etwas zubilligen, was einem selbst untersagt ist?«
Elisabeth schüttelte den Kopf. »Ach, Gret. Du bist ganz und gar unmöglich! Manches Mal denke ich, du lebst in einer ganz anderen Welt, die nur du sehen kannst.«
Gret betrachtete sie nachdenklich. »Ja, das ist die Frage. Welche Welt ist die wahre? Die, die du siehst, oder die, welche ich sehe? Warten wir es ab. Vielleicht werden wir es irgendwann erfahren. Bis dahin habe ich aber noch eine Treppe und einen
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