Das Antlitz der Ehre: Roman (German Edition)
dann müssen wir ab und zu auch etwas wagen. Und nun gib mir die Haube mit dem langen Schleiertuch, und lass uns gehen.« Sie reckte sich selbstbewusst, während Jeanne ihr den Schleier so steckte, dass er ihr Gesicht ein wenig verbarg. Niemand würde sich darüber Gedanken machen. Heute war ein schöner Tag, doch die Luft trotz der Sonne herbstlich kühl.
Meister Thomas erwartete sie bei der Kutsche und half ihr beim Einsteigen. Auf dem Dach hatte er einige Bündel verschnürt, die er vermutlich dem Würzburger Apothekenmeister anbieten wollte.
Die beiden kräftigen Pferde zogen an, und der Wagen rumpelte durch das äußere Tor und dann den steilen Weg hinunter der Vorstadt zu. Sie passierten das Zeller Tor und folgten der Straße, die auf die Mainbrücke zuführte. Links erhob sich das Deutschordenshaus in seiner seltsamen Bauweise. Neben dem Westturm der Kirche im unteren Teil des Langhauses wölbte sich ein Torbogen, durch den man unter dem Langhaus passieren
und auf die Gasse hinter dem Ordenshaus gelangen konnte. Dessen Erbauern war nichts anderes übrig geblieben, als dieser seltsamen Bauweise zuzustimmen, verlegte das Ordenshaus mit der Kirche doch den seit Jahrhunderten üblichen Prozessionsweg hinaus zum Schottenkloster. In Zukunft auf dem großen Umgang mit dem Allerheiligsten einen anderen Weg zu wählen, kam für die Würzburger Geistlichkeit nicht infrage. Und so mussten sich die Deutschordensritter etwas ausdenken, wie sie diesen Forderungen gerecht werden konnten, ohne die Baupläne für ihr Ordenshaus aufgeben zu müssen.
Der Wagen passierte die steinerne Brücke mit ihren weit geschwungenen Bögen über den Main. Noch hatten die Herbststürme mit ihren reichhaltigen Regenfällen nicht eingesetzt, und so führte der Fluss nur wenig Wasser. Elisabeth sah aus dem Fenster. Ein langer, flacher Kahn mit Bauholz machte gerade am Ufer fest. Dann entschwand er ihren Blicken, als der Wagen das Brückentor passierte und in die Domstraße einfuhr, die – breit und prächtig – in gerader Linie auf den Dom zuführte. Links ragte der Turm des Grafeneckart, der Stolz der Ratsherren der Stadt, in den Himmel. Am Platz auf der rechten Seite stand die Münze.
Der Kutscher ließ die Pferde in langsamem Schritt laufen. Schneller wäre es eh nicht gegangen, denn an jenen Tagen, an denen in der Domstraße und den angrenzenden Gassen Markt gehalten wurde, war kaum ein Durchkommen, so viele Menschen waren unterwegs, mit ihren Waren und dem ein oder anderen Stück Vieh. Erinnerungen stiegen in Elisabeth auf, wie sie mit den anderen Dirnen des Frauenhauses hier entlanggeschlendert war, ein Stück Süßigkeit in den Händen, das sie an einem der Bäckerstände erworben hatten, einen Korb am Arm für die Einkäufe, die sie für die Eselswirtin erledigen sollten. Es war ihr, als könne sie die anderen scherzen hören. Ihre Gestalten tauchten in ihrem Geist auf: die zierliche
Mara mit dem kastanienbraunen Haar, die jüngste unter ihnen, Anna, korpulent mit dem mausbraunen Haar und den schlechten Zähnen, Ester, die gute Seele, groß und knochig mit den Narben im Gesicht, die ein bösartiger Kunde mit seinem Messer hinterlassen hatte. Und dann Marthe. Die schöne Marthe mit dem Blondhaar. Sie würde allerdings nicht lächeln. Nein, das sparte sie sich für ihre Kunden auf. Für die Frauen hatte sie stets nur eine verkniffene Miene übrig. Die anderen dagegen waren zumeist erstaunlich fröhlich, wenn man bedachte, welch hartes Los sie getroffen hatte.
Waren sie wirklich irgendwo dort draußen unter den vielen Menschen? Elisabeth beugte sich ein wenig vor und ließ den Blick schweifen in der Erwartung, einen Rock mit dem verräterischen gelben Saum zu erhaschen. Sie spürte Jeannes Finger um ihren Arm. Dachte sie das Gleiche? Vielleicht. Jedenfalls hielt sie es offensichtlich nicht für ratsam, sich hinauszulehnen und zu riskieren, erkannt zu werden. Was, wenn eine der Frauen ihr unbedacht zuwinkte oder gar ihren Namen rief?
Jeanne schien ihre Gedanken zu lesen, denn sie wisperte ihr zu: »Ich würde sie auch gerne wiedersehen, aber das wäre nicht klug. Gar nicht klug! Es ist ein Teil aus einem anderen Leben, das hinter uns liegt. Vergiss das nicht.«
Der Wagen hielt an. Meister Thomas öffnete den Schlag und half Elisabeth beim Aussteigen.
»Würzburg ist eine lebhafte Stadt, das muss ich sagen«, sagte er und ließ den Blick schweifen.
»Ja, Ihr habt recht«, stimmte ihm Elisabeth zu und trat neben ihn, die Stirn in
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