Das Antlitz der Ehre: Roman (German Edition)
Falten gelegt. »Und doch scheint mir das nicht normal. Solch eine Stimmung herrscht sonst nur an hohen Prozessionstagen oder wenn Jahrmarkt ist. Auch wenn hier in der Domgasse und auf den Stufen vor dem Dom stets Gedränge herrscht, kommt mir das doch ungewöhnlich vor. Was meinst du, Jeanne?«
Das Kammermädchen nickte. »Ja, hier geht etwas vor sich.
Es scheint vom Grafeneckart her zu kommen. Hört ihr die Rufe?«
Sie reckte sich und stellte sich auf die Zehenspitzen, konnte aber nichts erkennen.
»Ich werde es herausfinden«, sagte sie und war auch schon zwischen den wogenden Leibern verschwunden, ehe Elisabeth etwas erwidern konnte. Meister Thomas führte sie die Stufen hoch, sodass sie nicht mehr zu sehr im Gedränge standen, dafür aber einen besseren Ausblick über die Domstraße hatten und über das, was dort vor sich ging.
Jeanne schien recht zu behalten. Der wogende Wirbel zog sich um das Rathaus, schien für einige Momente innezuhalten und begann dann einen Zug zu formen. Zuerst konnte Elisabeth die Spitzen der Hellebarden einiger Bewaffneter sehen, dann teilte sich der Strom der Menge, und ein bekanntes rotes Gewand blitzte auf. Ein Trommelwirbel erklang, und nun erkannte Elisabeth die hochgewachsene Gestalt in Wams und Mantel und mit dem roten Hut auf dem ergrauten Haar. Es schien ihr, als schreite Meister Thürner direkt auf sie zu. Der Anblick des Henkers jagte ihr einen Schauder über den Rücken, wie vermutlich vielen Passanten, ganz sicher jedoch aus einem anderen Grund. Elisabeth schätzte diesen ruhigen, klugen und weitsichtigen Mann gar, doch sein Anblick ließ Erinnerungen an Begebenheiten auf sie einstürmen, von denen sie viele gerne vergessen hätte.
Der Henker ließ seinen Blick schweifen, bis er bei Elisabeth verweilte. Er zögerte gar kurz in seinem Schritt. Die blauen Augen weiteten sich ein wenig, und die Stirn legte sich in Falten. Dann huschte ein Lächeln über seine Lippen, und er formte lautlos einen Namen. Kein Zweifel, er hatte sie erkannt.
Elisabeth machte einen Schritt rückwärts, ohne die Gestalt mit den breiten Schultern und dem kantigen Gesicht aus den Augen zu lassen. Ohne darüber nachzudenken griff sie nach Meister Thomas’ Hand. Er drückte beruhigend die ihre.
»Fürchtet Ihr Euch, Fräulein Elisabeth? Das müsst Ihr nicht. Der Henker und der Delinquent werden Euch hier nicht zu nahe kommen. Sie werden dort abbiegen und den Weg am Neumünster vorbei wählen, so wie es aussieht.«
»Ihr habt recht, verzeiht«, sagte sie schnell und nahm ihre Hand errötend wieder zu sich. Doch Meister Thomas schien sich weiter nichts dabei zu denken.
Nun erst wurde Elisabeth bewusst, dass sie es hier mit dem Zug eines Verurteilten zum Richtplatz vor der Stadt zu tun hatten. Deshalb waren so viele Menschen unterwegs. Sie hatten der Verlesung des Urteils vor dem Grafeneckart beigewohnt und folgten nun dem Karren zum Crambuhel – dem Hügel, um den die Krähen fliegen –, um die Vollstreckung zu sehen. Der Richtplatz mit der Hauptstatt und dem Galgen erhob sich auf dem kahlen Hügel und war bereits von Weitem als mahnendes Ensemble zu sehen, wenn man die Stadt durch das Hauger Tor verließ. Das erklärte auch die seltsam aufgekratzte Stimmung der Menge, die sich bereits an dem Blut berauschte, das schon bald unter dem Henkersschwert fließen würde. Oder würden sie den Mann auf dem Karren am Galgen aufziehen? Elisabeth betrachtete den vierschrötigen Mann mit den gefesselten Händen und Beinen, der sich stolz bemühte, seine Angst zu verbergen und den Spott der Menge an sich abprallen zu lassen. Kannte sie ihn? Hatte sie ihn nicht schon einmal gesehen?
Jeanne drängte sich zwischen die um den Karren wogenden Menschen und tauchte dann wieder an Elisabeths Seite auf.
»Eine Hinrichtung auf dem Crambuhel draußen«, keuchte sie. »Aber das hast du dir sicher bereits gedacht.« Sie stutzte. Anscheinend fiel ihr jetzt erst ein, dass sie nicht alleine waren, und so rückte sie ein kleines Stückchen von ihrer Herrin ab.
»Hans Bausback ist sein Name. Sie führen ihn zum Richtplatz, um ihn zu vierteilen und die vier Rumpfteile anschließend an den Haupttoren aufzuhängen.«
Elisabeth schauderte es. »Vierteilen?«, wiederholte sie tonlos und warf Meister Thomas einen Blick zu, der dem Bericht des Kammermädchens offensichtlich ebenfalls gelauscht hatte.
»Das ist keine übliche Strafe«, meinte der Apotheker. »Zumindest kenne ich es so aus meiner Heimatstadt. Dieser Mann muss
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