Das Antlitz der Ehre: Roman (German Edition)
gekommen war. Nur hatte sie früher die Augen vor der Ungeheuerlichkeit verschlossen und ihrem Vater blind vertraut. Für sie war er ebenso unfehlbar gewesen wie der Heilige Vater in Rom. Warum
sollte er heute und hier anders handeln als in seinen unzähligen Regierungsjahren zuvor?
Gret hatte recht. Wenn es um ihren Vater ging, stellte sie sich blind und taub und war nicht bereit, die Wahrheit zu erkennen. Die Erkenntnis schmerzte sie, und doch zwang sie sich, die Worte immer wieder durch ihren Geist gleiten zu lassen. Ihr Vater war nicht nur ein schlechter Fürst und Bischof gewesen, den Kapitel und Land berechtigt seines Amts enthoben hatten. Er war ein skrupelloser Mann, der ebenso wie der Dompropst von Grumbach über Leichen ging, wenn es das Erreichen seiner Ziele verlangte. Und seine vordersten Ziele waren Macht und Reichtum, in der irrigen Annahme, ihm würde noch immer ein fürstlich verschwenderisches Leben zustehen. Gequält schloss Elisabeth die Augen. Warum nur war sie hierher zurückgekehrt? Wie würde sie weiter mit ihm leben können?
Ruhelos schritt sie im dunklen Hof auf und ab. Ihr Blick fing sich immer wieder an dem mächtigen Turm, der in der Ecke der Burg schräg gegenüber dem Palas aufragte und unter dessen mächtigen Mauern der Graf von Wertheim in seinem Verlies schmachtete. Immer wieder trieben sie ihre Schritte bis zum Zustieg des Turmes, sie hielt kurz inne und sah die hölzerne Außenstiege hinauf. Dann setzte sie ihre Wanderung fort.
Als Elisabeth den Aufgang das nächste Mal erreichte, ergriff ihre Hand das Geländer, und ihr Fuß erklomm die erste Stufe. Noch einmal hielt sie inne, dann raffte sie die Röcke und stieg die enge, steile Holztreppe hinauf. Sie schob die Tür auf und betrat die untere Plattform des Bergfrieds. Der Treppenschacht wurde nur von wenigen Fackeln erhellt. Von oben hörte sie gedämpft die Stimmen der beiden Turmwächter, die oben auf der Plattform ihren nächtlichen Dienst leisteten und nach Feuer oder anrückenden Feinden Ausschau hielten. Sie hausten mit einigen anderen Männern, die für den Zabelstein
als Wächter angeheuert worden waren, auf den beiden Wohnebenen unterhalb der Plattform, zu der die gewendelte Treppe links von Elisabeth hinaufführte. Zu ihrer Rechten öffnete sich der Treppenschacht hinunter zur unteren Ebene. Hier gab es zwei steinerne Kammern mit eisernen Türen, aber auch das Angstloch im Boden, den Zugang zu dem türlosen Verlies im Fundament des Turmes, das in kaum einem Bergfried oder einem städtischen Gefängnisturm fehlte. Ein wenig zaghaft stieg Elisabeth die Stufen hinunter.
Vor den beiden verschlossenen Eisentüren saß ein junger Mann auf einem Schemel, den Rücken an die grobe Steinwand gelehnt, und döste vor sich hin. Er bemerkte Elisabeth erst, als sie schon so nah war, dass sie ihn hätte berühren können. Erschreckt sprang er auf und griff nach seinem Spieß. Elisabeth wich zurück.
»Stefan, halte ein. Du willst mich doch nicht etwa aufspießen?«
Der junge Mann blinzelte. »Ach, Ihr seid es.« Er ließ den Spieß sinken, sah sie aber misstrauisch an. »Was wollt Ihr hier? Dies ist kein Platz für ein Fräulein.«
»Was, wenn mein Vater mich geschickt hätte, mit dem Gefangenen zu sprechen?«
Stefan überlegte. »Das wäre ungewöhnlich, aber wer bin ich, dass ich die Anweisungen des Bischofs infrage stelle?«
Elisabeth nickte zustimmend. »So sehe ich das auch. Wo habt ihr den Grafen denn untergebracht?« Sie trat an das Angstloch und warf einen Blick hinunter. Drunten war nur undurchdringliche Schwärze. Feuchte, modrige Schwaden stiegen aus der Tiefe auf, aber es war kein Laut zu hören.
Stefan schüttelte den Kopf. »Der Graf ist nicht dort unten. Er sitzt hinter dieser Tür.« Er deutete mit dem Daumen auf die rechte der Eisentüren, die mit einem schweren Riegel verschlossen wurde. Im oberen Drittel war ein kleines Rechteck ausgespart, das man mit einem hölzernen Schieber öffnen und
schließen konnte. So blieb die Tür verschlossen, wenn der Gefangene Wasser oder die übliche dünne Suppe bekam.
»Unser Gespräch könnte eine Weile dauern und ist nicht für deine Ohren bestimmt«, sagte Elisabeth. »Du kannst dich derweil zurückziehen. Vielleicht gehst du zu den anderen auf die Plattform hinauf? Deine Ablösung wird bald auftauchen, sodass du nicht mehr herunterkommen musst.«
Stefan zögerte. Er senkte den Blick. »Ich weiß nicht, Fräulein Elisabeth … Hat das der Bischof wirklich so
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