Das Areal: Thriller (German Edition)
nachgegeben hatten, waren die Fahrstühle noch nicht installiert gewesen, doch Sorrows Leute hatten Plattformen mit Flaschenzügen eingebaut, die an die Arbeitsgondeln von Fensterputzern erinnerten. Verrostete Kabel verschwanden oben und unten in der Dunkelheit und summten leise, ständig in Bewegung. Verzerrte Stimmen, das Klirren von Metall an Beton und von oben eine Art Wimmern, vermischt mit Gelächter.
Turner setzte den Stiefel auf die unterste Stufe und machte sich an den mühsamen Aufstieg. Stellte sich vor, wie Ghost die Treppe hochgestapft war. Wie sie diesen Ort der Verwüstung erklommen hatte, während das höllenhafte Zwielicht wie Rauch an ihr vorbeigesickert war. Dunkle Augen, die in der künstlichen Nacht des Towers zu Hause waren. Sie hatte ihm noch immer nicht erzählt, wie sie entkommen war. Wie sie den Wächtern entwischt war. Wie sie bei Nacht ins Erdgeschoss hinuntergeschlichen, über das offene Gelände rund um den Tower gerannt und in das Areal hinein geflüchtet war. Wie sie, ohne zu fragen, abgehauen und nicht mehr zurückgekehrt war. Oder hatte Sorrow sie einfach gehen lassen, weil er geglaubt hatte, sie käme von allein zurück? Weil die Droge sie dazu zwänge?
Die Betonstufen waren rissig und geborsten, schmutzige Wasserrinnsale tröpfelten von oben herab. Die Wände waren mit Parolen bedeckt.
SORROW BESCHÜTZT UNS , UND WIR DIENEN IHM
DIE DUNKELHEIT IST UNSER SCHUTZ
WIR SIND DER TOWER
DUNKELHEIT , UNSERE ZUFLUCHT
Nach jeder Kehre blickte ihm ein Porträt von Sorrow entgegen. Von unterschiedlichen Leuten in unterschiedlichem Stil gemalt. Manchmal war er eine gewaltige Silhouette vor dem Hintergrund einer brennenden Stadt. Dann wieder war sein Gesicht im Sowjetstil ausgeführt und starrte ihn aus mittlerer Entfernung wie Lenin an. Trübe, von Drahtgittern geschützte Glühbirnen waren darüber an der Decke befestigt und hüllten die Bilder in gelbrotes Licht.
Die Türen auf den Treppenabsätzen standen offen, sodass Turner einen Blick auf die nach außen führenden düsteren Korridore werfen konnte. Die Wände waren mit Namen und Notizen bedeckt, die Türlöcher mit schmutzigen Decken und Plastikfolie verhängt, einige davon in verstörend grellen Farben gehalten. Aus einigen Eingängen sickerte uringelbes Licht. Stimmengemurmel und der Geruch von bratendem Fleisch. Sich umherbewegende Schatten und das Plätschern von Wasser. In das Gebäude hatte man neue Öffnungen und Unterteilungen eingefügt, sodass es kaum noch Ähnlichkeit mit der ursprünglichen Konstruktion hatte. Sorrows Leute hatten sich wie Termiten im rissigen Beton eingenistet. Neben einer Behausung lag ein Toter auf dem Boden. Turner sah dessen Füße und seinen abgewinkelten Arm. Die abgebrochene Nadel in seiner Armbeuge. Auf der Hand zeichnete sich ein Fußabdruck ab. Man hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, ihn aus dem Weg zu räumen.
Er war drei Etagen emporgestiegen und bog an der Ecke gerade zur vierten ab, als eine Stimme ihn zusammenzucken ließ. Eine harte, widerhallende Stimme, und einen Moment lang fürchtete er, man habe ihn entdeckt. »W ir sind wachsam«, sagte die Stimme.
Das Knistern und die Verzerrungen verrieten jedoch, dass es sich um eine Aufzeichnung handelte. Offenbar gab es hier versteckte Lautsprecher. Die Stimme erschallte im ganzen Tower, ferne Echos durchwaberten das Gebäude.
»W ir sind wachsam«, sagte die Stimme, »a ber wir stehen auch unter Beobachtung. Die Stärke des Towers und die darin herrschende Sicherheit wecken Neid und Hass. Unsere Feinde schlafen nicht, und deshalb müssen wir stets wachsam sein.«
Als sich von oben das Geräusch von Schritten näherte, schlüpfte Turner in einen der abzweigenden Korridore. Hier war es erstaunlich warm und feucht. Er spürte die drückende Anwesenheit vieler Menschen. Außer Sichtweite der Treppe verbarg er sich in der Dunkelheit und wartete darauf, dass die Entgegenkommenden ihn passierten. Der Wandslogan neben ihm lautete: DIE SAMMLER SIND DIE GRUNDLAGE UNSERER STÄRKE . Vier bis fünf Personen, den Stimmen und den Schritten nach zu schließen. Gelächter und das Schleifen von schwerem Stahl an Beton.
Die Ansage ging weiter. »S orrows Regeln dienen unserem Schutz und sichern unsere Zukunft. Wir dürfen der Versuchung nicht nachgeben. Wir müssen unerschütterlich festhalten an den Gesetzen unserer Gesellschaft und unsere Aufgaben für das große Ganze erfüllen.«
Als es im Treppenhaus wieder still geworden war, ging er zurück
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