Das Areal: Thriller (German Edition)
aussehen wie ein Fremder. Darfst dich nicht so verhalten. Kleide dich, als wärst du einer von ihnen. Lass dich nicht anmachen und tu so, als würdest du dich auskennen. Das Glass wird in der Wächterhalle ausgegeben. Die liegt etwa im dreißigsten Stock. Das Labor, wo sie das Zeug herstellen, muss ganz in der Nähe sein. Ein paar Stockwerke weiter oben haust Sorrow. Dort, wo die Feuer brennen. Wo sie mich gefangen gehalten haben.« Ihr Lächeln verflüchtigte sich, und sie bekam feuchte Augen. Ghost sagte: »S ie trainieren einen, ständig trainieren sie einen. Und es ist so dunkel und kalt und voller Gespenster. Sie bringen einem bei, wie man kämpft, wie man sich bewegt und wie man denken soll, wie man so wird, wie sie es sich vorstellen. Und sie zwingen einen, eine Menge Zeug zu nehmen, Lace und andere Sachen, deshalb kriegt man das meiste nur verschwommen mit, verstehst du, wie im Traum. Und jeder hat Angst vor einem oder hasst einen, und man ist ganz allein, denn man wird zu einer Furie ausgebildet. Und eines Tages sagen sie einem, man wäre so weit und müsse sich bewähren. Wenn man sich weigert, ist man tot. Und sie nennen einem eine Adresse und sagen einem, um wen es geht, und … und du erinnerst dich, es ist dein Elternhaus, deine eigene Familie, und du musst sie … sonst bringen sie dich um …« Sie senkte die Stimme zu einem leisen, erstickten Geflüster. »U nd du tust es, weil du Angst hast und weil du jetzt so bist. Turner, ich habe meinen Dad gesehen. Ich hab ihn gesehen.«
»D as war nur ein Traum.«
Tränen quollen ihr aus den Augenwinkeln. »I ch habe ihn umgebracht. Ihn und meinen Bruder. Ich habe sie beide getötet. Die haben mich dazu gezwungen. Das ist der endgültige Beweis, zu wem man gehört, wem gegenüber man loyal ist. Weigert man sich, töten sie die Leute, und anschließend bringen sie einen um. Das haben sie mir gesagt.« Sie kniff die Augen zu. »E s tut mir leid. Es tut mir so unendlich leid.«
45
D ie Kleidung hing Turner schwer und schlabbrig am Leib. Eine wattierte rote Kapuzen- und eine vollgesprayte Lederjacke. Der Besitzer der Kluft lag unter einem Haufen moderndem Müll vergraben in einer Gasse an der Rückseite eines Bordells. Wenn er das vermasselte, würden sich hundert solcher Typen wie Hyänen auf ihn stürzen. Er hatte Ghosts Klappmesser und, wohl eher aus Aberglaube denn aus Vernunftgründen, ihren letzten Lace-Vorrat dabei. Talismane, die ihn daran erinnern sollten, weshalb er hier war. Vor ihm ragte der Sanctuary Tower in den Himmel, dunkel, abweisend und böse. Am Fuße des Turms erstreckte sich der Horizont nach beiden Seiten ins Nichts, und es schien kälter geworden zu sein. Als sauge das Gebäude die Sommerhitze auf und verschlucke den Sonnenschein. In der Betonfassade waren schmale Risse, die halb fertigen eingemeißelten Engelsfiguren ragten zwölf Meter hoch auf und waren entstellt durch die Einwirkung der Witterung und die Jahre im Dunkeln, sodass sie jetzt kapuzentragenden Phantomen ähnelten. Eher Symbole des Todes als solche der Erlösung.
Ein in die aufgerissene Erde gegrabener Schotterhang führte zum Eingang hinunter. Der Boden festgetrampelt von zahllosen Füßen. Ein Pilgerweg, der mitten ins finstere Herz des Areals hineinführte. Kein Mensch zu sehen, doch Turner spürte, dass dutzende Augenpaare auf ihn gerichtet waren. Er versuchte, das Gefühl abzuschütteln, und rief sich Ghosts Ratschlag ins Gedächtnis. Verhalte dich unauffällig. Niemand sprach ihn an, kein Messerstich aus der Dunkelheit, und dann war er drin.
Vor ihm erstreckte sich warm und dunkel das ehemalige Erdgeschoss, ein bizarres Netz geborstenen Betons und provisorischer Träger, die spiralförmig vom Innenkern des Gebäudes ausgingen. Ein breiter, freigeräumter Weg, der dem Mittelschiff einer Kirche glich, führte zum Treppenhaus. Es roch nach brackigem Wasser, Schweiß und Rauch. Ein tiefes Brummen lag in der Luft, ein mechanisches, an- und abschwellendes Grollen, als atmete das Gebäude. Quer über dem Weg ein großes, angemodertes Banner mit der roten Aufschrift KEIN GOTT , NUR DER MENSCH . Seine Schritte hallten hohl in der Finsternis wider.
In der viereckigen Betonsäule, die vom eingestürzten Keller bis ganz nach oben führte, waren die vier Fahrstuhlschächte und das Treppenhaus untergebracht. Von oben fiel schwacher rötlicher Lichtschein herab. In den Wänden waren feine Risse, alle älteren Ursprungs und teilweise mit Dreck zugeklebt. Als die Fundamente
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