Das Areal: Thriller (German Edition)
hierherzugehen. Die verkümmerten, ineinander verflochtenen Bäume waren mit Efeu überwuchert. Am Rand große Ansammlungen schwarzen Dornengestrüpps, das an ein Meeresungeheuer erinnerte. Die verbrannte Rasenfläche erstreckte sich bis zum wuchtigen, eine Viertelmeile entfernten Tower, der aus dem Gestrüpp und dem Erdreich aufragte, das beim Einsinken der Fundamente geborsten war. Nichts regte sich im Park, es war vollkommen windstill und glühend heiß.
»I ch hab’s mir anders überlegt. Ich will hier nicht sein, Turner«, sagte Ghost, an den Fingernägeln kauend. »I ch will mit dem Tower nichts zu tun haben.«
»E s wird nicht lange dauern.«
»M an beobachtet uns. Sie können uns sehen. Das weiß ich.«
Er konnte nicht sagen, was er erwartet hatte, jedenfalls war das Buch des Todes eine ganz gewöhnliche, in wasserdichte Folie eingeschlagene Schreibkladde, die an einer Schnur von einem Holzbrett baumelte. Daneben hing ein Kugelschreiber. Es gab eine Menge von Ersuchen um Hilfe, Rache oder Gerechtigkeit. Alle kündeten von Verzweiflung, und es war klar, dass dies die allerletzte Hoffnung der Menschen war. Keiner der Einträge war datiert, doch die vordersten waren bereits stark verblichen und verschmiert. Auf der vorletzten Seite stand der Eintrag, auf den der alte Mann sich bezogen hatte.
»› Die Leute, die verantwortlich sind für die Toten aus der Nacht zum ersten Juli‹«, las er vor. Dann eine Aufzählung von Namen. »D a stehen sie alle, jeder einzelne Name von der Liste. Alle sind in derselben Nacht umgekommen. Mein Gott.«
»T urner«, flüsterte Ghost. »L ass uns gehen.«
Am Tower war keine Veränderung zu sehen, doch da war das Gefühl von Erwachen, von der vereinten Aufmerksamkeit dutzender Augenpaare, die aus der undurchdringlichen Dunkelheit hervorspähten. Die Wunde an Turners Seite spannte sich und zuckte. Er las den Namen des Verfassers, Anthony Bayle, darunter Hausnummer und Straße, Hurst Avenue, dann ließ er das Buch fallen, sodass es gegen das Brett prallte.
»W ir haben einen Namen«, sagte er zu Ghost, die zahllosen Fenster musternd, die auf sie herabstarrten. »E r hat denselben Familiennamen wie eines der Opfer, Jarred Bayle. Es könnte sich um einen Angehörigen handeln, dessen Rachegefühle stärker waren als die Angst vor dem, was alle so sehr fürchten.«
»S ie kommen«, sagte sie, mehr nicht, und ein Windhauch strich klagend durch den Sanctuary Park.
Sie machten sich unsichtbar, tauchten im Gebüsch unter und zogen sich so rasch, wie der Schmerz und die ihnen auf dem Fuß folgende Angst es erlaubten, in die unsicheren Steinbefestigungen der Straßen zurück.
Eine Stunde später saßen sie auf zwei Schaukeln inmitten der verrosteten Ruinen eines Kinderspielplatzes. Eine eigentümlich obszöne Skulptur aus demontierten Plastiktieren, arrangiert wie die Zwitterwesen auf einem Bild von Hieronymus Bosch, bewachte den Eingang. Nach Verlassen des Parks hatten sie so viele Haken geschlagen, dass Turner die Orientierung verloren hatte. Nur Ghost schien immer zu wissen, wo sie waren. Sollte ihnen tatsächlich jemand vom Tower aus gefolgt sein, hatten sie ihn inzwischen wohl abgeschüttelt. Irgendwo hinter ihnen im Gestrüpp stritten sich zwei Betrunkene um einen Zehn-Dollar-Schein. Die Frau schrie den Mann an, sie habe es sich verdammt noch mal verdient. Turner wünschte, sie würden endlich die Klappe halten. Das Klettergerüst zur Linken war lückenlos von Gekritzel bedeckt, offenbar ein Gedicht. Eine moderne Version der Wikingersage, eine Ode an einen Helden der Vorstadt.
Turner beobachtete, wie Ghost mit der Spritze hantierte. Die Nadel steckte noch in seinem Fleisch, dicht unterhalb der letzten Rippe, unmittelbar neben dem Verband. Die Verletzung roch nach geronnenem Blut, hatte sich anscheinend aber nicht entzündet. Die Flüssigkeit in der Spritze war klar wie Wasser, doch es ging Eiseskälte davon aus, und Turners Schmerzen verschwanden hinter einem narkotisierenden Kristallnebel. Die Erschöpfung fiel von ihm ab, als würden Glasscheiben beiseitegeschoben, und seine Gedanken waren auf einmal unnatürlich schnell und klar.
»W as ist das für ein Zeug?«, fragte er.
»D as willst du lieber nicht wissen«, entgegnete sie mit leichtem Lächeln.
»N a los, sag schon.«
»D as ist Koks. Medizinisch rein, kein Verschnitt. Ich kenne einen Typen, der einen Freund in Kanada hat, der besorgt ihm den Stoff. Ist nicht billig, aber ich hab mir gedacht, das Beste ist in so
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