Das Arrangement
blauen Augen und das runde Gesicht ihrer Großmutter erkannte. “Wer ist da?”, fragte sie. “Kommen Sie mal ans Licht, damit ich Sie richtig sehen kann.”
Marnie fürchtete sich fast davor, in das Zimmer einzutreten. Sie hatte gar nicht erwartet, tatsächlich Gramma Jo hier vorzufinden. Ihr Haar war immer lang und natürlich gewellt gewesen. Seit Marnie sich erinnern konnte, trug sie es im Nacken zusammengebunden. Es war schon seit Jahren leicht ergraut gewesen, doch nun sah es fast weiß aus.
Marnie fragte sich, ob vielleicht der Schock über das Verschwinden ihrer Enkelin schuld daran war. Sie wusste nicht so recht, wie sie erklären sollte, was geschehen war, doch sie war entschlossen, alles zu beichten – und hoffte, dass man ihr vergab. Vielleicht sollte sie auch hoffen, dass man ihr überhaupt glaubte.
“Ich bin es.” Mehr brachte Marnie nicht über die Lippen, als sie ins Zimmer ging. Auf der Höhe des Bettes zögerte sie kurz, fragte sich, ob die alte Frau sie wohl erkannte.
“Du?” Josephine Hazelton blickte Marnie erschrocken an. “Was machst du denn hier?” Marnie wurde ganz heiß unter diesem durchbohrenden Blick. Ihre Großmutter hatte sie erkannt, aber dachte sie nun, sie sei Alison oder Marnie?
“Verlasse dieses Zimmer”, flüsterte Josephine Hazelton. “Es gibt keinen Grund, warum du hierherkommen solltest.”
“Bitte, lass mich erst mal erklären, wer …”
“Raus!”
Marnie griff sich an die Kehle, wo normalerweise ihr Pennyring hing, den sie täglich getragen hatte, seit ihre Großmutter ihn ihr als Talisman gegeben hatte. Der Ring war nicht mehr da. Andrew hatte ihn immer noch. Doch diese Handbewegung, danach zu tasten, war schon instinktiv – und Gramma Jo kannte diese Geste genau.
Die alte Frau beobachtete die Bewegung und sagte nichts. Sie runzelte die Stirn, und nach und nach verschwand der ablehnende Ausdruck auf ihrem Gesicht. Sie legte die Hände an die Lippen, als wollte sie beten, und langsam füllten sich ihre Augen mit Tränen.
Sie schüttelte den Kopf. “Nein, das ist unmöglich. Marnie? Was ist mit dir passiert?”
“Oh Gott, so viel.”
Sie betrachtete Marnies dunkles Haar, die Augen und das schmerzvolle Lächeln, dann presste sie sich die Fäuste gegen die Brust. Das war ihr Mädchen. Ihre Schultern sackten herunter. “Komm her”, sagte sie. “Komm zu mir.”
Marnie lief zum Fenster und sank neben dem Sessel ihrer Großmutter auf die Knie. “Es tut mir leid. Ich konnte dir nicht sagen, dass ich am Leben bin. Das konnte ich niemandem erzählen.”
Sie nahm Gramma Jos Hand und musste sich immer wieder zusammenreißen, damit ihre Stimme nicht versagte, während sie die Ereignisse der vergangenen sechs Monate durchging. Sie begann mit Butchs Überfall auf sie, berichtete jede Einzelheit dieses Nachmittags, an die sie sich erinnern konnte. Sie erzählte auch, was danach passiert war, wie Andrew sie auf den Felsen gefunden hatte, ihr Arrangement und der wahre Grund, warum sie in Mirage Bay waren. Es fiel ihr nicht leicht, und sie musste einige Male eine kurze Pause machen, um sich zu sammeln. Ab und an fürchtete sie, von ihren Gefühlen übermannt zu werden. Gramma Jo hörte mit großer Anteilnahme zu und zeigte weit mehr Verständnis, als Marnie sich erhofft hatte.
Als sie von den vielen Operationen berichtete und der langen Zeit, die sie gebraucht hatte, um sich davon zu erholen, sah Gramma sie an, als hätte sie darüber Bescheid gewusst. “Hast du von irgendwoher erfahren, dass ich lebe?”, fragte sie.
“Nein, gewusst habe ich nichts”, erwiderte sie. “Man hat mir erzählt, du wärst von den Klippen gesprungen, nachdem du Butch getötet hast. Womöglich hofften sie, dass ich gestehe, dich dabei beobachtet zu haben. Ich habe ihnen die Wahrheit gesagt. Dass ich nicht zu Hause war. Dass ich auf dem Flohmarkt verkauft habe. Außerdem habe ich ihnen gesagt, dass es Butch ganz recht geschehen sei, nachdem er dir all die Jahre lang das Leben zur Hölle gemacht hat.”
Marnie zögerte, über das zu sprechen, was in den vergangenen achtundvierzig Stunden geschehen war, doch sie hatte keine andere Wahl. Gramma Jo war vielleicht die einzige Person, die ihr jetzt noch helfen konnte. Wie zu befürchten war, reagierte ihre Großmutter entsetzt, als sie von LaDonnas Tod und der Anklage wegen zweifachen Mordes gegen Marnie erfuhr.
Es dauerte eine Weile, bis Marnie sie davon überzeugt hatte, dass es ihr gut ging. Sie hatte sich einen Plan
Weitere Kostenlose Bücher