Das Arrangement
könne sie nur ihre eigene Haut retten, indem sie andere verriet. Natürlich wollte sie ihre Unschuld beweisen, aber könnte sie es ertragen, wenn sie dafür das Leben einer anderen Person zerstören müsste? Schuldete sie denn Andrew oder Julia etwas? Theoretisch war die Antwort nicht schwierig – nein. Aber in der Realität erwies sich alles als viel komplizierter.
Marnie hatte Julias Verzweiflung nur allzu lebhaft vor Augen. Sie schien felsenfest davon überzeugt zu sein, dass die offizielle Anerkennung eines außerehelichen Kindes ihr Leben zerstören würde – und vielleicht wäre es tatsächlich so, wenn man bedachte, was für ein oberflächliches Dasein Julia Fairmont-Driscoll führte. Wahrscheinlich würde die feine Gesellschaft sie tatsächlich schneiden, aber Marnie fragte sich, ob vielleicht noch mehr hinter Julias Angst steckte.
Vielleicht hätte sie mit Julia verhandeln sollen. Sie hätte darauf bestehen können, dass ihre Mutter sich darum kümmerte, Gramma Jo aus dem Heim zurück in ihr Zuhause zu bringen und für die Kosten aller notwendigen Pflegedienste aufzukommen. Das wäre doch kein zu hoher Preis gewesen, oder? Dann würde Marnie zwar ihre Tage im Gefängnis fristen, hätte aber zumindest die Gewissheit, dass es ihrer Großmutter gut ging. Sofern man Julia in dieser Beziehung trauen konnte. Und dann war da noch Andrew. Vielleicht hätte Marnie selbst einen Privatdetektiv engagieren sollen, um ihn zu finden. Oder darauf bestehen sollen, mit ihm nach Mexiko zu reisen. Noch besser wäre allerdings gewesen, wenn sie von ihm verlangt hätte, in dieser kritischen Zeit gar nicht erst zu fliegen.
Zu viel “Hätte”! Im Moment konnte sie keinen klaren Gedanken fassen. “Mein Mann sollte in wenigen Tagen zurück sein”, erklärte sie vage.
“Und was ist mit der Staatsanwältin? Was soll ich ihr sagen?”
“Ich brauche etwas Zeit.”
“Natürlich.” Er stand auf und gab dem Sicherheitsbeamten ein Zeichen, der neben der Tür wartete und Marnie in ihre Zelle zurückbringen würde.
Kurze Zeit später fand sich Marnie wieder weggesperrt in ihrer Zelle und starrte verzweifelt auf den Teller mit der erkalteten Suppe, die ihr Abendmahl darstellte. Sie fragte sich, ob sie jemals dieser Falle entrinnen würde, die sie selbst mitgebastelt hatte. Noch immer trieb der Gedanke sie halb in den Wahnsinn, dass die weibliche Wasserleiche nicht identifiziert werden konnte. Selbst wenn sie gestand, wer sie war und dass sie Butch umgebracht hatte, würde sie es unter diesen Umständen nie beweisen können.
Jemand musste Alisons Fingerabdrücke auf den Dokumenten vertauscht haben. Es lag nahe, dass dies auf Andrews Konto ging. Typisch, dass er es nicht einmal für nötig befunden hatte, sie davon zu unterrichten. Wahrscheinlich hatte er heimlich ihre Fingerabdrücke genommen, während sie noch bewusstlos im Krankenhaus lag.
Bei dem Gedanken daran wurde ihr übel. Würde ein Unschuldiger wirklich so weit gehen, um sich vom Mordverdacht zu befreien? Selbst eine DNA-Analyse, sollte sie denn angeordnet werden, würde Marnie nicht helfen können. Der Test würde lediglich bestätigen, dass Julia ihre Mutter war – und wäre damit der endgültige Beweis dafür, dass Marnie, die aussah wie Alison, all deren Papiere wie Führerschein und Versicherungsnummer bei sich trug und die gleichen Fingerabdrücke hatte, Alison war.
Niemand würde ihr glauben. Niemals. Auch Gramma Jo würde ihr nicht mehr helfen können. Sie galt ohnehin schon immer als etwas wunderlich und stellte jedenfalls kaum die Art Zeugin dar, die man sich vor Gericht wünschte.
Erneut kauerte Marnie sich auf den Beton, starrte auf die undefinierbare Pampe auf ihrem Teller und fragte sich, wie hungrig man wohl werden musste, um das ohne Brechreiz zu essen. Sie hatte sich selbst immer als eine Kämpfernatur gesehen. Sie war trotz eines Abtreibungsversuchs geboren worden, hatte zahllose Übergriffe überstanden und zuletzt sogar Butchs Gewalttat verhindert. Doch nun schien es ihr, als sei sie am Ende ihrer Kräfte angelangt. Sie wusste nicht einmal mehr, gegen wen oder was es sich noch lohnte zu kämpfen, solange sie ihre eigene Identität nicht beweisen konnte.
Als Kind hatte es Momente gegeben, in denen sie sich gefragt hatte, warum sie überhaupt auf der Welt war. Das klang ziemlich nach Selbstmitleid, und sie war nicht besonders stolz auf diese wehleidigen Anwandlungen, doch sie hatte sich wirklich wie ein schlechter Scherz des Schicksals
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