Das Arrangement
gefühlt. Die gleiche Frage stellte sie sich jetzt. Warum machte sie überhaupt weiter? Um hier zu enden? Sie wusste, dass es Menschen gab, die mehr Leid ertragen mussten als andere, aber das änderte nichts daran, dass sie genug hatte. Wie lange sollte sie das ertragen müssen? Eine Ewigkeit? Denn so fühlte sich das an, was sie erwartete.
Das Schlimmste für Marnie war, dass sie die restliche Zeit auf dieser Erde nicht als sie selbst verbringen würde. So unglaublich es auch klang, nachdem sie sich jahrelang gewünscht hatte, jemand anders zu sein, hätte sie jetzt, da dieser Wunsch in Erfüllung gegangen war, alles darum gegeben, wieder sie selbst zu sein – Marnie Hazelton mit all ihren Deformationen.
Aber wäre dann jemals etwas zwischen ihr und Andrew Villard gewesen? Andrew, der einzige Mann, der sich je um sie gesorgt hatte. Zumindest hatte es diesen Anschein gehabt. Wo steckte er bloß? Wenn nicht bald ein Lebenszeichen von ihm kam, musste sie wohl befürchten, dass auch er tot war. Fast wünschte sie, es wäre so. Der Gedanke, er könne am Leben und für ihr Martyrium verantwortlich sein, schien ihr unerträglich.
Irgendwann nach Stunden des Grübelns legte Marnie sich schließlich auf ihre harte Betonliege und hoffte inständig einzuschlafen. Sie wollte nicht mehr denken. Es gab sowieso keinen Ausweg. Tatsächlich sorgte die übermächtige Erschöpfung dafür, dass sie immer mal wieder für kurze Zeit Erlösung in einem unruhigen Schlaf fand. Doch mitten in der Nacht schreckte Marnie plötzlich aus ihren Albträumen auf und kannte die Antwort. Ausgerechnet Paul Esposito war es gewesen, der sie ihr gegeben hatte.
Als sie sich im Dunkeln aufsetzte, hörte sie zum ersten Mal ihre Mitgefangenen schreien und Obszönitäten rufen. Sie war nicht allein in diesem Zellentrakt. Der Gestank von Urin drang in ihre Nase, Gegenstände wurden rasselnd gegen die Stahlgitter geschlagen. Einen kurzen Moment lang nahm sie das Chaos um sie herum wahr, bevor sie es wieder ausblendete und tief in ihre Gedankenwelt abtauchte. Überlebensstrategie – ein Glück, sie war geübt in dieser Taktik. So gelang es ihr, sich auf ihren Plan zu konzentrieren.
Die einzige Person, der sie etwas bedeutete, war Gramma Jo, die alte Frau, die inzwischen selbst Hilfe benötigte. Marnie hatte wirklich nur eine Wahl. Sie würde einen Handel abschließen. Nein, zwei – einen mit Julia, den anderen mit der Staatsanwältin. Sie brauchte sich nur im Sinne der Anklage schuldig zu bekennen, und alles wäre vorüber. Warum den Schmerz und die Unsicherheit unnötig hinauszögern? Auf diese Weise könnte sie zumindest ein Mindestmaß an Kontrolle über ihr Leben zurückgewinnen. Alles wäre geregelt.
Sie verspürte absolut kein Verlangen danach, die Märtyrerin zu spielen. Sie wollte sich nicht für andere aufopfern. Das hier war das kleinste Übel und die einzige Möglichkeit, für die Frau zu sorgen, die sie aufgezogen und ihr alles über Stärke und das Überleben beigebracht hatte. Zumindest das lag in Marnies Macht.
Sie griff sich an den Hals, wusste aber, dass die Kette nicht dort hing – und dass sie eine Möglichkeit finden musste, ohne sie zu überleben. Sie hatte gar keine andere Wahl. Von jetzt an würde sie ihren eigenen Weg gehen und ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen. Es wurde höchste Zeit.
“Wache!”, sie stellte sich ans Gitter und rief so lange weiter, bis die Wärterin endlich erschien.
“Ich möchte noch einmal mit meinem Anwalt sprechen”, sagte sie zu der Frau. “Und zwar so schnell wie möglich.”
“Julia?” Rebeccas Stimme schallte durch die Sprechanlage in Julias Büro. “Ein gewisser Paul Esposito möchte dich sprechen. Er sagt, er sei Alisons Rechtsanwalt.”
Julia sah von dem Brief auf, den sie gerade schrieb. Sie legte den Füller beiseite und starrte auf das Telefon. Von einem Paul Esposito hatte sie noch nie gehört. Sie konnte sich nicht vorstellen, was er von ihr wollte, es sei denn, Marnie hatte beschlossen, ihr Angebot zu akzeptieren. Oder wollte Marnie etwa ihre Behauptung, sie sei Julias uneheliche Tochter, publik machen? Undenkbar!
“Julia? Nimmst du den Anruf an?”
“Ja, bin schon dran”, sagte sie und nahm den Hörer ab. “Hallo? Mr. Esposito?”
Der Anwalt kam sofort zur Sache. “Mrs. Fairmont, Alison hat mich gebeten, Sie davon zu unterrichten, dass sie sich in beiden Anklagepunkten schuldig bekennen wird.”
Julia konnte es nicht fassen. “Alison kennt mein Angebot. Es gibt
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