Das Attentat
des Krieges, Westerhospital geheißen hatte. In den Straßen des weitläufigen Komplexes herrschte stets ein reger Betrieb von Krankenwagen, Besuchern und Patienten, die in ihren gestreiften Pyjamas unter den Mänteln wieder ein paar Schritte machen durften. Ärzte liefen mit offenen weißen Kitteln von einem Gebäude zum anderen, nur Anton hielt den Kopf schräg geneigt, warf hin und wieder das Haar zurück und ging leicht schlurfend – was manchmal die gerührte Aufmerksamkeit vorbeiradelnder Krankenschwestern erregte, die dann auf seinem Sofa landeten. An der Baracke, an der einmal das Schild ›Lazarett‹ gehangen hatte, mußte er fast nie vorbei, und daß er dann an Schulz dachte, der damals sterbend oder schon tot hineingetragen worden war, kam immer seltener vor.
Seine erste Frau lernte er 1960 während des Weihnachtsurlaubs in London kennen. Tagsüber schlenderte er durch die Stadt, kaufte Krawatten in der Regent Street und ging in Geschäfte mit alten Navigationsinstrumenten, gediegene Läden, von denen er einige hinter dem British Museum bereits kannte; abends ging er meist ins Konzert. Damals liefen noch viele Herren mit Melone und Stockschirmen herum, und wenn er in einem Pub zu Mittag aß, war die Garderobe voll von diesen rührenden Utensilien. Als er an einem regnerischen Nachmittag zwischen einer gigantischen Architektur der Macht Whitehall herunterschlenderte, wo die Horse Guards wie balzende Hühnervögel unglaubliche Tänze aufführten, beschloß er, in die Westminster Abbey zu gehen, wo er noch nie gewesen war.
Die Kirche war voller ausländischer Touristen und Tagesausflügler aus der Provinz. Er hatte sich einen Reiseführer gekauft, der in ein violettes Rot gebunden war, das man nur in England sah, dort allerdings überall. Allein vom Mittelschiff bis zum Choreingang verzeichnete der Grundriß hundertsiebzig Gräber, die Blüte der Nation aus sechs Jahrhunderten, so daß er das Büchlein lieber zuschlug. Überall, auf dem Boden, an den Mauern und Pfeilern, waren Skulpturen und Inschriften angebracht; in den Kapellen waren Standbilder und Grabsteine aufgestellt, wie am Besichtigungstag einer zweitklassigen Möbelauktion. Im engen Gang neben dem Chor lagen die Toten hintereinander wie die Patienten auf den Korridoren der Operationssäle, hier allerdings in Marmor, auf ihren Sarkophagen und in ewiger Narkose. Er stellte sich vor, was hier am Jüngsten Tag los sein würde, wenn sie alle aus ihren Gräbern stiegen und sich gegenseitig bekanntmachten, die nach Hunderten zählenden Helden, Edlen und Künstler: der vornehmste Club des Vereinigten Königreichs.
Die R oyalty lag in der Kapelle hinter dem Hochaltar. Durch das Gedränge von Königen und Königinnen schlurften Menschen, die hier nie ihre letzte Ruhe finden würden. Beim Coronation Chair entstand ein Auflauf. Anton war fasziniert von dem Thron, auf dem seit dem Beginn des vierzehnten Jahrhunderts nahezu alle Fürsten gekrönt worden waren: gemasertes Eichenholz mit einfachen Verzierungen, die Rückenlehne voller Initialen, die in irgendeinem Jahrhundert ins Holz gekratzt worden waren und mit dem echten Gespür für Geschichte nie wegrestauriert wurden. Unter dem hölzernen Sitz ein großer Stein, der Stone of Scone. Anton schlug seinen Reiseführer auf. Der Stein war das Kopfkissen des biblischen Jakob gewesen; im achten Jahrhundert vor Christus war er über Ägypten und Spanien nach Irland gekommen, vierzehnhundert Jahre später nach Schottland und schließlich nach England, wo er nun, in diesem Augenblick und an diesem Ort, zu sehen war. Die ganze Wahrheit über die Könige um ihn herum war für ihn nur in den Dramen von Shakespeare zu finden, und so waren wohl auch die Legenden über den Stein nicht mehr als ein wahrer Kern. Aber nur, wenn die irischen Prätendenten wirklich königliches Blut in den Adern gehabt haben, stöhnte der Stein, und wenn sie darauf gekrönt wurden – sonst nicht. Anton fing an zu lachen und sagte laut auf holländisch: »So ist das.« Worauf eine junge Frau, die neben ihm stand, auf holländisch fragte: »Was ist so?«
Er sah sie an – und in diesem Moment war bereits alles entschieden.
Es war ihr Blick, der Blick ihrer Augen, und ihr Haar: dichtes, widerspenstiges, rötliches Haar. Sie hieß Saskia de Graaff und war Stewardeß bei der KLM. Nachdem sie die Poet's Corner besucht hatten, begleitete er sie hinaus. Sie mußte ihren Vater, der jedes Jahr über Weihnachten nach London fuhr, um alte Freunde
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