Das Attentat
kannte niemanden; nur Saskia grüßte ein paar Leute, von denen sie aber nicht mehr wußte, wie sie hießen. In der nüchternen, protestantischen Kirche, in der der Organist bereits zu spielen begonnen hatte, setzten sie sich in die letzte Reihe. Als der Sarg hereingetragen wurde, standen alle auf, und Anton legte den Arm um Sandras Schultern, die flüsternd fragte, ob in dem Sarg nun der Mann liege. Die Witwe wurde von de Graaff am Arm geführt; betrübt – natürlich –, aber mit erhobenem Kopf blickte sie auf die Trauergäste und nickte ab und zu mit einem leichten Lächeln.
»Opa!« rief Sandra plötzlich laut.
De Graaff drehte kurz den Kopf zur Seite und zwinkerte ihr zu. Die Witwe und er setzten sich in die erste Reihe neben den Minister. Anton bemerkte nun auch den Bürgermeister von Amsterdam. Die Trauerrede hielt ein berühmter Pastor, der jahrelang in einem Konzentrationslager gesessen hatte. Die Kapriolen seiner Stimme, bei denen Sandra jedesmal lachend zu ihrem Vater aufschaute, waren so großartig, daß Anton an Demosthenes denken mußte, der stets mit einem Mund voller Kieselsteine geübt hatte. Vielleicht hatte auch der Pastor sein rhetorisches Talent einer Sprachstörung abgerungen. Anton hörte jedoch nur mit halbem Ohr zu, weil ihn das Profil einer Frau fesselte, die auf der anderen Seite des Mittelganges einige Reihen weiter vorn saß. Aus unerfindlichen Gründen mußte er an einen Säbel denken, der mit der Spitze ins Gras gesteckt worden war. Die Frau war ungefähr fünfundvierzig Jahre alt; ihr dunkles, in alle Richtungen abstehendes Haar wurde an einigen Stellen bereits grau.
Sie schlossen sich dem Zug zum Friedhof, der gleich hinter der Kirche lag, als letzte an, während des kurzen Marsches über die Straße und den Kiesweg zur Grabstelle hin unterhielten sich die Trauergäste wieder lebhaft, winkten sich zu oder liefen schnell nach vorn oder nach hinten. Es war weniger eine Beerdigung als ein großes Treffen.
»Jetzt fühlen sie sich wieder wie zu Hause«, sagte Saskia.
»Wenn nur niemand erfährt, daß sie jetzt alle hier sind.«
»Wen meinst du mit ›niemand‹?«
»Die Deutschen natürlich.«
»Ach, hör doch auf, bitte.«
Die Fotografen hielten wieder nach bekannten Gesichtern Ausschau.
Auf der anderen Seite der Straße standen die Dorfbewohner und starrten auf den Trauerzug. Die meisten erkannten offensichtlich erst jetzt, wer da all die Jahre in ihrer Mitte gelebt hatte. Jungen auf Mopeds betrachteten den Zug mit spöttischen Gesichtern, hatten die Motoren jedoch abgestellt. Offensichtlich ging von diesen Männern und Frauen, von denen manche zu Krüppeln geschlagen worden waren, etwas aus, das die Jungen zwang, sich ruhig zu verhalten.
»Papa?«
»Ja?«
»Was ist das eigentlich, Krieg?«
»Ein großer Streit. Wenn zwei Gruppen von Menschen sich gegenseitig einen Kopf kürzer machen wollen.«
»Etwas weniger brutal geht's auch«, sagte Saskia.
»Meinst du?« fragte Anton lachend.
Auf dem Friedhof hatte sich ein dichter Kreis um das Grab gebildet, so daß die Steenwijks von der eigentlichen Beerdigung nichts zu sehen bekamen. Sandra begann sich zu langweilen, Saskia nahm sie deshalb an die Hand und ging mit ihr auf und ab. Anton hörte sie hinter sich Inschriften vorlesen und Sandra erklären. Hin und wieder hob er den Kopf und streckte das Gesicht der brennenden Sonne entgegen; daß ihm die Kleider am Leibe klebten, kümmerte ihn nicht. Die leise Unterhaltung in den hinteren Reihen verstummte erst, als die Witwe selbst das Wort ergriff, ihre Worte verloren sich jedoch in der Weite des Sommertages. Die Vögel, die über sie hinwegflogen, mußten sie, die in der weiten Polderlandschaft dicht gedrängt um dieses kleine, dunkle Loch in der Erde standen, für ein großes Auge halten, das zum Himmel starrte.
Nachdem sie im Pfarrhaus, am Ende der Schlange, endlich die Gelegenheit bekommen hatten, der Witwe ihr Beileid auszusprechen, gingen sie zwischen abfahrenden Autos hindurch zur Gaststätte auf der anderen Straßenseite. Die wenigen Tische, die draußen standen, waren von Dorfbewohnern besetzt, und auch in der Wirtsstube herrschte reger Betrieb. Die Gäste drängten sich vor der Theke, schoben Tische zusammen, lockerten Krawatten, zogen ihre Jacketts aus und riefen nach Bier, Kaffee und Würstchen. Die Musikbox spielte Strangers in the Night. Der Minister unterhielt sich mit dem Bürgermeister und kritzelte etwas auf die Rückseite einer Zigarrenschachtel. Zu den
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