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Das Attentat

Das Attentat

Titel: Das Attentat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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gedacht? Ich habe daran gedacht, was dir zugestoßen ist, hast du auch an mich gedacht?«
    Er drehte sich halb um, dann wieder zurück, fuhr sich mit der Hand ratlos über die Augen und nahm plötzlich wieder den Stein. Er schaute sich um, sah Anton an, der die Arme halb vor das Gesicht hob und rief:
    »Fake!«
    Fake holte aus und warf den Stein durchs Zimmer, mitten in den Spiegel. Anton duckte sich. Mit halb abgewandtem Gesicht sah er das Glas in große Scherben zerspringen und auf dem Deckel des nun etwas leiser bullernden Ofens zersplittern; der Stein schlug auf den Kaminsims auf und blieb dort liegen. Während Anton noch mit pochendem Herzen auf die Verwüstung starrte, hörte er Fake mit schnellen Schritten die Treppe hinuntergehen.
    Eine letzte Scherbe rutschte aus dem Rahmen und zersprang klirrend auf dem Fußboden. Im nächsten Augenblick flog der Ofendeckel mit dumpfem Knall fünf Zentimeter in die Höhe und entließ eine Rußwolke ins Zimmer. Anton legte die Hände in den Nacken, verschränkte die Finger und holte tief Luft. Er spürte, daß er im nächsten Augenblick laut loslachen mußte: der zerbrochene Spiegel, der explodierende Ofen, das Geschrei auf der Straße – aber die Kopfschmerzen wurden auf einmal zu heftig. Wie sinnlos alles war! Der Ruß breitete sich im Zimmer aus, und er wußte, daß es Stunden dauern würde, bis alles wieder sauber war.
    Er hörte Fake wieder die Treppe heraufkommen, und erst in diesem Augenblick wurde ihm bewußt, daß er kein Schließen der Tür gehört hatte. Unwillkürlich suchte er etwas, womit er sich verteidigen konnte. Er griff nach dem Tennisschläger. Fake erschien in der Türöffnung und betrachtete einen Moment lang die Verwüstung im Zimmer.
    »Ich wollte dir noch sagen«, sagte er, »daß ich das nie vergessen werde, damals in der Klasse.«
    »Was meinst du, damals in der Klasse?«
    »Daß du in die Klasse gekommen bist, als ich da in dem Affenkostüm saß.«
    »Ach Gott, ja«, sagte Anton. »Das ist ja auch noch passiert.«
    Fake zögerte. Vielleicht wollte er Anton die Hand geben, hob sie aber nur kurz, ging wieder nach unten und zog die Tür hinter sich ins Schloß.
    Anton schaute sich im Zimmer um. Langsam legte sich ein Fettfilm über die Gegenstände. Am schlimmsten war es bei den Büchern und Sextanten; der Flügel war zum Glück geschlossen. Er mußte aufräumen, Kopfschmerzen hin oder her, zog die Vorhänge auf, öffnete die Fenster und betrachtete im hereindringenden Lärm die Scherben. Ihre Rückseite war mattschwarz. Im Rahmen steckten noch ein paar spitze Splitter, und statt des Spiegels waren nur dunkelbraune Bretter zu sehen, die irgendwann einmal jemand mit Zeitungspapier beklebt hatte, das später zum größten Teil wieder heruntergerissen worden war. Nur die beiden vergoldeten Putten mit den Fruchtschalen in den Armen und dem Unterleib aus gelappten Blättern schauten unverändert engelhaft auf ihn herab. Zuerst mußte der Stein weg. Er konnte ihn notfalls einfach aus dem Fenster werfen, ohne daß es auffiel. Vorsichtig, um nicht auf den Glassplittern auf dem Bastteppich auszurutschen, ging er zum Kaminsims. Mit dem Stein in der Hand las er auf einem Zeitungsschnipsel auf dem Holz folgenden Satz: Nel di 2 Luglio 1854. Solennizzandosi con sacra devota pompa nell'Augusto tempio di Maria SS. del Soccorso…
    Ohne Fake hätte er das nie erfahren.

Vierte Episode
1966

1
    Auch in der Liebe ließ er die Dinge auf sich zukommen. Alle paar Monate wechselten die Mädchen, die auf seinem durchgesessenen Sofa (meist mit hochgezogenen Knien) Platz nahmen, und er mußte zum soundsovielten Mal die Funktion eines Sextanten erklären. Aber es langweilte ihn nie, denn er war eigentümlich fasziniert von den glänzenden Kupferinstrumenten mit den Spiegeln, Skaleneinteilungen und dem kleinen Fernrohr, die in ihrer Form die Erde und die Sterne der Nacht festhielten. Oft begriffen die Mädchen nichts von dem, was er sagte, was sie jedoch immer begriffen, war die Liebe, mit der er alles erklärte und die, zum Teil jedenfalls, auch ihnen galt. Manchmal blieb das Sofa ein paar Wochen leer, doch das störte ihn nicht; in die Kneipe zu gehen und ein Mädchen abzuschleppen war unter seiner Würde.
    1959 machte er seine Doktorprüfung, und als er eine Assistentenstelle in der Anästhesie bekam, mietete er sich in der Nähe des Leidseplein eine größere, helle Wohnung. Jeden Morgen ging er die paar hundert Meter zum Wilhelminakrankenhaus, das eine Zeitlang, während

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