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Das Attentat

Das Attentat

Titel: Das Attentat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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ebenfalls auf die Striche.
    »Keine Ahnung. Das habe ich mich nie gefragt.«
    »Dafür muß es doch einen Grund geben. Hatte er etwas gegen euch?«
    »Nicht, daß ich wüßte. Ich ging ab und zu mal zu ihnen. Sie hatten eher etwas gegen die anderen Nachbarn, die kümmerten sich um niemanden.«
    »Und du hast nie versucht, das herauszubekommen?« fragte Takes und sah ihn befremdet an. »Das interessiert dich alles nicht?«
    »Interessiert dich nicht, interessiert dich nicht… Ich sagte doch, daß ich kein Bedürfnis habe, das alles wieder hervorzukramen. Es ist geschehen, so wie es geschehen ist, und damit basta. Daran ist nichts mehr zu ändern, auch nicht, wenn man es begreift. Es war Krieg, eine große Schweinerei, meine Familie ist ermordet worden, und ich bin mit dem Leben davongekommen, ein Onkel und eine Tante haben mich aufgenommen, und mit mir ist alles gutgegangen. Du hast den Schuft zu Recht niedergeschossen, wirklich, du wirst von mir nichts anderes hören; du mußt nur seinen Sohn davon überzeugen, bei mir ist das nicht nötig. Aber warum willst du an der Sache jetzt etwas aufklären? Das geht gar nicht, und außerdem: was bringt es? Alles Geschichte, antike Geschichte. Wie oft ist seitdem nicht dasselbe passiert? Vielleicht geschieht es jetzt in diesem Augenblick wieder, während wir hier sitzen und reden. Legst du deine Hand dafür ins Feuer, daß nicht in diesem Augenblick irgendwo ein Haus mit Flammenwerfern in Brand gesteckt wird? In Vietnam, zum Beispiel? Worüber redest du eigentlich? Als du mich mit nach draußen genommen hast, dachte ich, es ginge dir um mein Seelenheil, aber das ist wohl nicht der Fall, jedenfalls nicht nur. Dich beschäftigt es mehr als mich. Meiner Meinung nach kommst du vom Krieg nicht los, aber die Zeit geht weiter. Oder tut dir womöglich leid, was du getan hast?«
    Er hatte schnell und trotzdem ruhig gesprochen, aber zugleich mit dem unbestimmten Gefühl, sich beherrschen zu müssen, um den anderen nicht plötzlich zu verprügeln.
    »Morgen täte ich es wieder, wenn es sein müßte«, sagte Takes, ohne eine Sekunde zu zögern. »Und vielleicht muß es morgen wieder sein. Ich habe eine ganze Kompanie von diesem Pack ins Jenseits befördert, und das immer noch zu meiner inneren Genugtuung. Aber diese Aktion bei euch auf der Uferstraße…, damit stimmte etwas nicht. Da ist etwas passiert.« Er legte die Hände auf den Rand der Bank und setzte sich anders hin. »Ich meine damit, daß es mir im nachhinein lieber gewesen wäre, wenn die Aktion nicht durchgeführt worden wäre.«
    »Weil auch meine Eltern dabei umgekommen sind?«
    »Nein«, sagte Takes hart. »Tut mir leid, daß ich das sagen muß. Das war nicht vorherzusehen und nicht zu erwarten und hatte vielleicht damit zu tun, daß sie deinen Bruder mit einer Pistole erwischt haben, oder es hat mit etwas anderem zu tun, oder mit nichts, ich weiß es nicht.«
    »Es hat vermutlich damit zu tun«, sagte Anton, ohne aufzublicken, »daß meine Mutter den Anführer dieser Deutschen angegangen ist.«
    Takes schwieg und starrte vor sich hin. Dann wandte er sein Gesicht Anton zu und sagte:
    , »Ich will dich hier wirklich nicht mit meinem Heimweh nach dem Krieg quälen, wenn du das vielleicht denkst. Diese Sorte Menschen kenne ich auch, aber ich gehöre nicht dazu. Die fahren in jedem Urlaub nach Berlin und würden sich am liebsten ein Hitlerbild übers Bett hängen. Nein, der Grund ist, daß da noch etwas anderes mitgespielt hat, dort in Haarlem.« In seinen Augen erschien ein seltsamer Glanz; Anton sah seinen Adamsapfel ein paarmal auf und nieder gehen. »Deine Eltern und dein Bruder und die Geiseln waren nicht die einzigen, die es damals das Leben gekostet hat. Ich war nämlich nicht allein, als ich auf Ploeg schoß. Wir waren zu zweit. Ich war in Begleitung von… von jemand… wie soll ich sagen… meiner Freundin. Egal, lassen wir das.«
    Anton starrte ihn an, und plötzlich durchfuhr es ihn. Er schlug die Hände vors Gesicht, wandte sich ab und begann zu schluchzen. Sie starb. In diesem Moment starb sie für ihn, vor einundzwanzig Jahren, und zugleich stieg sie auf zu dem, was sie ihm bedeutet hatte, einundzwanzig Jahre lang, verborgen in Dunkelheit und ohne daß er jemals an sie gedacht hätte, denn sonst hätte er sich fragen müssen, ob sie noch lebte. Gerade hatte er sie noch gesucht, in der Kirche, und später wieder in der Gaststätte – das wurde ihm jetzt erst klar, und darum war er zu dieser Beerdigung gegangen,

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