Das Attentat
den Finger an den Abzug und betrachtete die Waffe von allen Seiten. »Man kann immer noch damit schießen, weißt du? Nach dem Krieg hätte ich sie bei deinem Schwiegervater und seinen Freunden abliefern müssen, ich habe mich also strafbar gemacht. Man durfte sie nur als Souvenir behalten, mußte dann aber den Lauf zugießen lassen. Das habe ich nicht getan. Man weiß ja nie, ob man damit nicht doch noch mal schießen muß«, sagte er und sah Anton an, »zum letzten Mal.« Er legte die Pistole hin und hob horchend den Finger. »Hörst du? Sie weint leise. Keine Mutter hat jemals ihr Kind so verwöhnt wie Truus das Ding da…« Einen Moment lang schien es, als würden ihm Tränen in die Augen steigen, aber soweit kam es nicht. »Weißt du«, sagte er plötzlich übergangslos, »ich habe einmal einen Film über einen Mann gesehen, dessen Tochter von einem Kerl vergewaltigt und ermordet wurde. Der Kerl bekommt achtzehn Jahre, und der Vater schwört, daß er ihn an dem Tag der Entlassung umbringen wird. Nach ungefähr acht Jahren ist es soweit: Straferlaß, gute Führung, Begnadigung, du weißt schon. Mit einem Revolver in der Tasche fängt der Vater ihn am Gefängnistor ab, und es wird gezeigt, wie sie den ganzen Tag miteinander verbringen und reden. Zum Schluß erschießt der Mann ihn nicht, weil er begreift, daß der andere auch nur ein armer Schlucker und ein Opfer der Verhältnisse ist.« Oben klingelte das Telefon, und während Takes langsam zur Tür ging, erzählte er seine Geschichte zu Ende: »Letzte Einstellung: Der Mann bleibt stehen, und man sieht den anderen mit einem Koffer in der Hand auf einem Waldweg davongehen. Dann erscheint auf seinem Rücken ein weißes Pünktchen, das immer näher kommt und zu den Wörtern THE END wird. Und in dem Moment wußte ich plötzlich eines ganz sicher: daß der Mann in diesem Augenblick und trotz seines Verständnisses den Revolver ziehen und den anderen in den Rücken hätte schießen müssen. Denn seine Tochter war nicht von den Verhältnissen ermordet worden, sondern von dem Kerl da. Wer es nicht tut, behauptet damit eigentlich, daß alle Menschen, die unter erbärmlichen Umständen leben müssen, potentielle Vergewaltiger und Mörder sind. Ich komme gleich wieder.«
Im Souterrain wurde es still, aber die Gewalt, die Takes heraufbeschworen hatte, blieb wie ein unhörbares Echo hängen. Das leise Knallen der kaputten Neonröhre. Mit dem Rücken zur Pistole setzte sich Anton auf den Tisch und schaute auf die Lippen auf der Nordsee. Er hätte gern seinen Mund darauf gedrückt, traute sich aber nicht. Das Foto. Lächelnd erwiderte das Gesicht seinen Blick. Wo er auch war, Truus schaute ihn an, ohne dabei die Augen zu bewegen; sie konnte Hunderte von Menschen gleichzeitig ansehen, immer würde sie jeden so anschauen wie im Moment der Aufnahme, und nie würde sie älter werden und nie selbst etwas sehen. So, mit Saskias Augenaufschlag, hatte sie ihn damals in der Dunkelheit angeschaut, an ihm vorbei, durch ihn hindurch, verletzt, nachdem sie gerade einen Mörder niedergeschossen hatte. Am Vorabend Gott weiß welcher Folter und der Exekution im Dünensand. Er legte die Hände auf sein Gesicht, dorthin, wo sie es berührt hatte, und schloß die Augen. Es ist die Hölle, dachte er, die Hölle. Selbst wenn morgen der Himmel auf Erden errichtet würde, könnte es nach all dem, was in der Vergangenheit passiert ist, nicht der Himmel sein. Es war hoffnungslos. Das Leben auf dieser Welt war ein Mißerfolg, ein großer Reinfall, und es wäre besser gewesen, es wäre nie entstanden. Erst wenn es kein Leben mehr gab, und damit auch keine Erinnerung mehr an die Todesschreie, wäre die Welt wieder in Ordnung.
Plötzlich stieg ihm ein fürchterlicher Gestank in die Nase, und er öffnete die Augen. Aus dem Aschenbecher stieg senkrecht eine blaue Rauchsäule auf. Er schüttete den Rest seines Whiskys auf die glühende Masse, es machte den Gestank noch schlimmer. In der Ecke sah er über dem Spülbecken einen Wasserhahn, als er aber den Aschenbecher in die Hand nehmen wollte, verbrannte er sich die Finger. Er ging mit dem Glas zum Wasserhahn und ließ Wasser über die Finger laufen; als er dann Wasser in den Aschenbecher schüttete, entstand ein schmutziger, schwarzer Brei. Der Rauch wallte gegen die niedrige Decke. Nachdem er vergeblich versucht hatte, die Klappfenster zu öffnen, verließ er das Souterrain. Auf dem Gang fiel ihm die Pistole auf dem Tisch ein. Als er sah, daß der
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