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Das Attentat

Das Attentat

Titel: Das Attentat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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ich sie liebte, nannte sie mich einen Schwärmer, der sich das nur einbildete, weil wir soviel gemeinsam erlebt hätten. Schön und gut, aber geschieden bin ich jetzt doch.«
    Er begann hin und her zu laufen. Der Schritt seiner Hose hing viel zu tief, die Hosenbeine waren hinten ausgefranst – und Anton dachte: Das ist es, was vom Widerstand übrig ist, ein schlampiger, unglücklicher, halbbetrunkener Mann in einem Souterrain, das er womöglich nur verläßt, um seine Freunde zu begraben, während die Kriegsverbrecher freigelassen werden und die Ereignisse ohne sein Zutun stattfinden…
    »Eine lange Geschichte…«, sagte Takes. »Ja, das war ihre Stärke, lange Geschichten. Dieses Gequatsche! Endlos haben wir gequasselt, und immer ging es um die Moral. Manchmal auch darum, wie es nach dem Krieg sein würde, aber dann sagte sie meistens nicht viel. Einmal sagte sie, sie schaue in ein großes schwarzes Loch, wenn sie an die Zeit nach dem Krieg denke. Aber wenn es um die Moral ging, konnte sie kein Ende finden. Einmal fragte ich sie: Wenn dich ein SS-Mann vor die Wahl stellt, wen er erschießen soll, deinen Vater oder deine Mutter, mit der ausdrücklichen Betonung, daß er beide erschießt, wenn du nichts sagst… was tust du dann? Ich hatte von so einem Fall gehört«, sagte er und drückte seine Kippe in den Aschenbecher. »Sie fragte, was ich tun würde. Ich sagte, daß ich es an den Knöpfen meiner Uniformjacke abzählen würde: Vater, Mutter, Vater, Mutter… Auf Unmenschlichkeit kann man nur mit Stumpfsinn antworten. Sie sagte, sie würde nichts sagen. Wer so einen Vorschlag machte, hielt sich ihrer Meinung nach nicht an sein Wort. Möglicherweise erschoß er sie nicht. Aber wenn man zum Beispiel gesagt hätte: ›Meinen Vater‹, dann würde er womöglich wirklich den Vater erschießen und dann sagen, man habe es ja so gewollt. Und ihrer Meinung nach wäre es dann auch so, gewissermaßen. Das fand ich gut von ihr. Das war prima, prima. Nächtelang haben wir uns über unsere Arbeit unterhalten. Das mußt du dir vorstellen, wie wir da saßen – beide zum Tode verurteilt…«
    »Ihr wart zum Tode verurteilt?« fragte Anton.
    Takes mußte lachen.
    »Natürlich. Du etwa nicht? Einmal«, fuhr er fort, »mußte sie mitten in der Nacht noch nach Hause, lange nach der Sperrstunde. Da hat sie sich in der Dunkelheit verirrt und bis Sonnenaufgang irgendwo auf der Straße gesessen.«
    Anton legte den Kopf in den Nacken, als hörte er in der Ferne einen vertrauten Ton, ein undeutliches Signal, das aber sofort verebbte.
    »Bis Sonnenaufgang irgendwo auf der Straße? Mir kommt vor, als hätte ich so was mal geträumt…«
    »Sie hatte jede Orientierung verloren. Das müßtest du doch auch noch wissen, wie dunkel es damals sein konnte.«
    »Ja«, sagte Anton. »Ich wollte damals eine Zeitlang Astrologe werden.«
    Takes nickte, schien aber kaum zu hören, was Anton sagte.
    »Sie dachte über die Dinge nach. Sie war zehn Jahre jünger als ich, aber sie dachte viel mehr über alles nach als ich. Im Vergleich zu ihr war ich ein Bauerntölpel, eine Art Mathematik-Idiot. Eines Tages habe ich vorgeschlagen, die Kinder des Reichskommissars Seyss-Inquart zu kidnappen und gegen ein paar hundert von unseren Leuten auszutauschen. Wie ich mir so etwas in den Kopf setzen könnte! Was die Kinder damit zu tun hätten? Ja, was hatten die Kinder damit zu tun? Nicht die Bohne natürlich. Ebensowenig wie die Judenkinder, die am laufenden Band umgebracht wurden. Absolut nichts, also. Aber gerade darum. Man muß den Feind treffen, wo er am empfindlichsten ist. Und wenn es seine Kinder sind – und es sind natürlich seine Kinder –, dann muß man ihn auch da treffen. Was denn mit den Kindern geschehe, wenn der Handel nicht zustande käme? Ja, dann müßten die Kinder eben dran glauben. Schmerzlos – im anatomischen Institut…« Aus den Augenwinkeln warf Takes einen kurzen Blick auf Anton und sagte: »Ja, tut mir leid, wirklich, ich bin keinen halben Cent wert.«
    »Das sagst du jetzt schon zum zweiten Mal.«
    »Ja, tatsächlich?« sagte Takes mit absichtlich schlecht gespielter Überraschung. »Na so was! Na schön, einigen wir uns also darauf, daß der halbe Cent aus dem Verkehr gezogen worden ist, was meinst du? Daraus wurde also nichts. Faschist sein gegen die Faschisten, das ist meine Devise, eine andere Sprache verstehen sie nicht. Das hätte ich gern als Wappenspruch, aber dann lateinisch. Du als Akademiker weißt doch bestimmt, wie das

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