Das Auge der Dunkelheit (German Edition)
windschiefen Deutung hörte Leonard das Bemühen, ihn vom Wesentlichen abzulenken. Ging es gerade um dieses abergläubische Drumherum? Nur erklärte das Kavenays Interesse an der Sache noch weniger. Paranormale Phänomene zu untersuchen stellte einen Grenzbereich der Wissenschaft dar. Aber es war immer noch Wissenschaft. Ein mythischer Dolch ergab dabei nicht den geringsten Sinn. Eine Bewegung lenkte ihn ab. Der bullige Stiernacken stieg in den Wagen.
Aufbruch, dachte er. Das Verhör ist beendet.
Wie auf ein Zeichen nahm Kavenay seine Visitenkarte wieder an sich und notierte auf der Rückseite eine Telefonnummer.
„Es würde mich freuen, wenn Sie sich bei mir melden, sobald Ihre Eltern wieder in Singapur sind.“
Dann erhob Kavenay sich, nahm den Stock, seine Mappe und streckte die Hand aus. Leonard reichte ihm seine zum Abschied, doch Kavenay verweigerte den Gruß.
„Das Buch, Mister Finney.“
Eilig fügte er hinzu: „Es ist vergriffen. Schwer zu bekommen.“
Als Leonard es ihm übergab, segelte eine Fotografie heraus auf die Tischplatte. Sie zeigte einen älteren Asiaten. Obwohl Leonard das Gesicht noch nie gesehen hatte, wusste er, wer der Mann war. Und dieses Mal saß er keiner Einbildung auf. Die Signatur unter dem Bild verriet ihm, dass er vergangene Nacht mit diesem Mann gesprochen hatte.
Dr. P. Pathom
Leonard fixierte den Namen zu intensiv. Und Kavenay riss das Bild zu schnell wieder an sich.
Als sich die Fahrstuhltür öffnete, entwich Caitlins Anspannung mit einem Aufschrei. Kaltes Neonlicht flutete herein. Im Gang wartete eine schmächtige Gestalt. Ein junger Inder, der in einem zu lang geratenen, weißen Kittel steckte. Das von der Decke fallende Licht bleichte seinen dunklen Teint, verlängerte die Schatten seiner Haare über der Stirn. Aus dem reglosen Gesicht stak eine scharfe Nase hervor. Ein schmales Gespenst, das stumm seinen Dienst in den Katakomben des Changi Hospitals verrichtete.
„Der Gehilfe des Pathologen“, stellte Brunswick den Mann vor.
Bitte nicht, flehte Caitlin in sich hinein. Die Situation entwickelte sich so gruselig, wie sie befürchtet hatte. Die Klimaanlage imitierte einen Wintermorgen. Der Grund, warum sie den beiden Männern in die kahlen Gänge folgte, ließ sie die Temperatur noch um Grade niedriger fühlen. Der monotone Gesang der Neonleuchten begleitete sie bis zu einer zweiflügeligen Metalltür. Dort stellte sich der Inder auf die Zehenspitzen und drückte seine Nase an das Sichtfenster. Schließlich nickte er kurz und öffnete ihnen die Tür. Im Raum, blanke Metallwände, weiß gekachelter Boden, standen sechs Tische. Auf einem lag ein Körper, bedeckt von einem Laken, Blutflecken in Brusthöhe. Brunswick bemerkte Caitlins Zögern.
„Alles in Ordnung, Miss Libovitz?“
Ungehalten stieß Caitlin die Luft aus. Wie sollte alles in Ordnung sein?
Sie war vor einigen Tagen in Singapur angekommen. In Chinatown hatte sie eine billige Unterkunft besorgt, für sich und Vicky, die nachkommen wollte. Als ihre Freundin zwei Tage später immer noch nicht aufgetaucht war, ging Caitlin zur US-Botschaft. Bei dieser ersten Begegnung hatte Brunswick noch die herablassende Haltung gezeigt, die er Rucksackreisenden vorbehielt.
„Zwei Tage? Würden Sie sagen, Ihre Freundin ist in dem Punkt zuverlässig?“
Sein Tonfall ärgerte Caitlin. Wurde ein Pauschaltourist beim Frühstück vermisst, stand eine halbe Stunde später ein Suchtrupp bereit. Reisende wie sie und Vicky waren in dem Punkt eben nicht zuverlässig . Es verdross sie um so mehr, weil das auf Vicky leider zutraf.
„Miss Libovitz. Es ist lobenswert, dass Sie sich um Ihre Freundin kümmern. Wir haben hier etliche Vermissten-Meldungen“, sagte Brunswick und deutete auf einen Stapel Unterlagen. „Einige bleiben wochenlang verschwunden. Meistens sind Drogen im Spiel. Oder, na ja, Urlaubsflirts. So was kommt vor. Aber ich versichere Ihnen. Bis jetzt ist noch jeder wieder aufgetaucht.“
Und heute M orgen hatte sich Brunswick wieder bei ihr gemeldet, sichtlich bemüht, so neutral wie möglich zu klingen. Er müsse sie ins Changi Hospital bitten. Möglicherweise könne sie bei einer Identifizierung behilflich sein.
Das indische Gespenst untersuchte akribisch Karteikarten, die an den Griffen metallener Klappen baumelten. Die vorläufige Gruft derer, die unter bislang ungeklärten Umständen zu Tode gekommen waren. Schließlich klopfte er an eines der Fächer, wie um Einlass zu fordern.
„Wie ich schon sagte,
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