Das Auge der Dunkelheit (German Edition)
Miss Libovitz. Es ist Routine. Es muss nichts mit Ihrem Fall zu tun haben.“
Dieses eine Wort, Routine, war der einzige Hoffnungsschimmer, an den Caitlin sich klammerte. Brunswick gab ein Zeichen und der Gehilfe öffnete die Klappe. Geräuschlos glitt die Trage aus dem Fach. Mit einer Handbewegung bat Brunswick Caitlin, näher heranzutreten. Dann nahm er das Klemmbrett vom Tuch, das die Leiche verdeckte. Für einen Moment schloss Caitlin die Augen.
Sie sah Vicky vor sich am Tag des Abschieds. Neugierige Augen, widerspenstig in die Stirn fallende Blondlocken, blasse Lippen, immer auf der Suche nach einem Kuss.
„Wir sehen uns in ein paar Tagen, Caty. Und dann fliegen wir zusammen nach Pom Phen.“
„Es heißt Phnom Phen, Vicky.“
„Phnom Phnen. Pohm ... nach Kambodscha.“
Sie lachte laut.
„Miss Libov itz?“
Brunswicks Stimme riss Caitlin aus der Versenkung. Das letzte Bild
ihrer Fre undin Vicky verlöschte wie ein Fernseher, der abgeschaltet wurde. Caitlin öffnete die Augen wieder. In diesem Moment schlug das indische Gespenst das Laken um.
„Ist sie das, Miss Libovitz?“
Die Frage erwies sich als überflüssig. Obwohl das grünlich aufgequollene Gesicht nichts mehr mit ihrer Erinnerung zu tun hatte, schossen Caitlin sofort die Tränen hervor. Ohne eine Gefühlsregung zu verraten, füllte Brunswick ein Formular aus:
Miss Caitlin Libovitz, wohnhaft San Diego, Kalifornien, identifiziert die Leiche Nr. 13-a-88 als Victoria Anastasia Paillin.
Kapitel 5
Arundhavi saß auf dem blank polierten Holzfußboden der Buddhastatue gegenüber. Die Hände im Schoß zum Dhyana-Mudra ineinandergelegt hatte er eine Stunde lang so getan, als würde er meditieren. Getarnt als buddhistischer Mönch auf Pilgerfahrt hatte er Unterschlupf gefunden in dem kleinen Tempel. Die Mönche, die ihm arglos Gastfreundschaft gewährten, ahnten nicht, welchem dunklen Ruf Arundhavi nach Singapur folgte. Unvorstellbar ihr Entsetzen, wüssten sie, was er im Stillen wirklich anbetete. Der Klang einer Zimbel beendete die Meditationsstunde. Mit einer eleganten Bewegung schwang sich Arundhavi auf. Obwohl er bereits fünfzig Jahre alt war, spannten sich unter seinem orangefarbenen Gewand knüppelharte Muskeln. Das Ergebnis langjähriger Übung in der Kunst des lautlosen Tötens. Barfüßig glitt er, ohne ein Geräusch zu verursachen, in den Hof. Die Sonne stand tief und ihre Strahlen fingen sich in der Außenmauer. Es war kühler geworden. Mit einer Hand strich er sich über den Schädel, den er sich kürzlich nach buddhistischer Tradition hatte kahl scheren lassen. Bedächtig nahm er einen Bambusstab auf, wog ihn kurz in der Hand und begann dann mit der Übung. Flink tänzelte er durch den Innenhof und wirbelte den Stock durch die Luft. Kein Licht, keine Kontur drang durch seine geschlossenen Lider. Der Bodhi-Baum in der Mitte des Hofes blieb ihm verborgen. Ebenso der Schrein, die Sträucher, die Kräuterbeete und der Steingarten, der den Ozean der Stille symbolisierte. Und dennoch berührte er nichts davon, weder mit seinen Gliedmaßen noch mit dem wirbelnden Bambusstock. Nicht einmal ein Zipfel seines Gewandes wischte darüber hinweg. Mit kraftvollen Hieben geführt fauchte das Holz in der Luft. Das einzige Geräusch an diesem heiligen Ort. Das war seine Meditation. Jeder Gedanke verflüchtigte sich und sein Geist löste sich vom Körper. Er versuchte, hinüberzugelangen, auf die andere Seite. Dort, wo er seine beiden Brüder getroffen hatte. Als das, was verlorengegangen war, für einen Augenblick wieder ans Licht kam. Es hatte nach ihnen gerufen. Und jedem von ihnen eine Botschaft hinterlassen. Aber ER war auch dort gewesen. Die Erinnerung an diese Vision, sein Gesicht, seine Gestalt störten Arundhavis Konzentration. Der Bambusstock touchierte den Stamm des Baumes und zersplitterte krachend. Verstört hielt Arundhavi inne und öffnete die Augen.
Unmöglich, nach all dieser Zeit. Dennoch gab es keinen Zweifel. Er hatte IHN gesehen. Und jetzt war ER hier. Besaß ER das Verlorene?
Kapitel 6
Er raste auf das Ende der Welt zu. Die Scheinwerfer prallten auf eine schroff sich in die dunkle Höhe aufwuchtende Felswand. Gezackte, vernarbte Gipfel, beschienen von einem kränklich gelben Mond, versperrten die Sicht. Ruhig saß sie neben ihm, die Augen geschlossen, den Kopf in den Nacken gelegt. Ihr Haar flatterte im Fahrtwind. Trotz der Frische der Sommernacht hatten sie das Verdeck des Cabrios geöffnet, um den eigenartigen Geruch des
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