Das Auge der Dunkelheit (German Edition)
Lager trug er eine olivgrüne Uniform ohne Abzeichen. Aber seine war aus blanker Autorität geschneidert. Vor ihm stand der uneingeschränkte Herrscher, der General der Shan Liberation Army . Der Rest der Welt kannte ihn als den rücksichtslosesten und mächtigsten Drogenschmuggler des Fernen Ostens. Er zog eine Automatik und drückte die Mündung an Leonards Stirn. Als berühre ihn nur der Finger eines Kindes, zeigte Leonard keine Reaktion. Der General verzog einen Mundwinkel.
„Sie sind nicht mutig.“
Für einen Mann, der das Befehlen gewohnt war, klang seine Stimme sonderbar verhalten.
„Sie sind nur sicher, dass ich Sie nicht töten werde. Diesen Gedanken hatten schon viele, die vor mir knieten. Und es war ihr letzter.“
„Woher wollen Sie das wissen? Vielleicht war der letzte Gedanke ein anderer. Vielleicht so was wie: Drück doch ab, Arschficker.“
„Damit hast du dir eine Spezialbehandlung verschafft, du weißes Schwein“, presste der General hinter bebenden Lippen hervor. „Ich schneide dir persönlich deine stinkenden Eingeweide heraus.“
Dann riss er die Waffe zur Seite und brüllte den Soldaten scharfe Befehle zu. Unter den Achseln gepackt schleiften sie ihn über den Platz.
„Es wartet jemand auf dich, der scharf auf deine Leber ist!“, rief ihm der General lachend hinterher.
Die Soldaten brachten ihn zu einem länglichen, auf kurzen Stelzen errichteten Bau. Er bestand nur aus den tragenden Balken und einem mit Reisstrohmatten bedeckten Giebeldach.
Leonard wurde von einem schlanken Uniformierten in Empfang genommen, der ihn die Stufen hinaufzog und vor einem niedrigen Tisch auf die Knie drückte. An der gegenüberliegenden Seite saßen drei Gestalten auf dem Boden. Ein junger Chinese in einem affigen Seidenanzug und ein älterer mit schlohweißem Haar und Bart von gleicher Färbung. Zwischen ihnen duckte sich ein dürres Männchen. Spirriges Haar wie trockenes Gras, fledermausartige Ohren und zusammengekniffene, rote Augen gaben seinem Gesicht das Aussehen eines Ferkels. Die Körperhaltung, tiefe Falten und die fleckige, gelbe Haut erweckten in Leonard den Eindruck, der Mann sei mehr tot als lebendig.
„Es scheint, als hätten Sie meinen Freund Tong Sa gerade sehr verärgert.“
Die Stimme dieses Gespenstes wehte herüber wie das Meckern einer Ziege. Seine gelben Spinnenfinger glitten über Papiere, die er vor sich ausbreitete. Die Hinterlassenschaft des Blackford Conley.
„Ich hätte mit allem gerechnet, Mister Finney. Aber dass Sie im Lager meines Hoflieferanten auftauchen, übertrifft alles. Sie sind wahrlich für Überraschungen gut.“
„Wer zum Donnerwetter sind Sie?“
Das in Seide verpackte Äffchen fuhr auf.
„Sprich nur, wenn der ehrenwerte Chan Khuo dir eine Frage stellt.“
Seinen eilfertigen Einwand bezahlte der junge Chinese mit einem kräftigen Stockhieb.
„Chan Khuo!“, stieß Leonard aus.
Hass kochte hoch und füllte jeden Winkel in seinem Innern. Der Mann hinter all dem Morden. Und mochte auch sein Killer das Messer geführt haben. Verantwortlich für den Mord an seinen Eltern war dieses halbtote Schwein.
„Du verdammter Irrer!“, schrie Leonard heraus. „Du hast sie alle getötet. Du hast meine Eltern getötet. Warum?“
Der Weißhaarige reagierte mit einem erstaunten Gesichtsausdruck. Sorgenvoll neigte er sich Chan zu und flüsterte ihm ins Ohr. Mit einem Fluch wurde er unwirsch weggestoßen.
„Warum?“, krächzte Chan. „Warum habt ihr eure widerlichen, weißen Langnasen da reingesteckt? Dieses Geheimnis ist nicht für euch. Nicht für eure Augen, eure Ohren. Ihr zerstört alles, was ihr mit euren schmutzigen Händen berührt. Darum müsst ihr alle sterben. Aber mich wird es retten. Es ist mein Leben.“
Der Ausbruch nahm Chan für einen Moment den Atem. Keuchend griff er an die Tischkante und saugte krächzend die Luft ein. Ungläubig glotzte Leonard ihn an. Was glaubte dieser Wahnsinnige zu finden? Der schweinsgesichtige Chinese erholte sich, wühlte in den Papieren herum und verfiel in ein hohes Gelächter.
„Ja, ja. Wir wären uns beinahe begegnet. In Kampong Glam. Das hier hast du mir vor der Nase weggeschnappt. Dafür mussten sie alle sterben. Nun sehe ich, dass es ohne Wert ist. Aber du ...“
Er zeigte mit seinem stockdünnen Finger auf Leonards Brust.
„... du weißt es, nicht wahr?“
Mit der anderen Hand legte er ein scharfes Tranchiermesser auf den Tisch.
„Die, die du deine Eltern nennst, haben gelitten, bevor sie
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