Das Auge der Dunkelheit (German Edition)
dem Fenster entdeckte Sung ein Stück roten, teilweise verkohlten Stoff.
„Hat das was mit dieser Sache zu tun?“, fragte Chao.
„Schwer zu sagen. Bei all dem Müll, der hier rumliegt“, meinte Sung. „Aber wenn, wird die Sache rätselhaft.“
Jonathan Talley hatte den Großteil seiner dreiundfünfzig Jahre in schlecht sitzenden Anzügen verbracht. Seine Vorliebe für üppige Mahlzeiten und kaltes Bier gab ihm das Aussehen einer riesigen Mangofrucht. Seit einer Dekade leitete er das Singapur-Büro von SA Shipping. Während dieser Zeit verlor er die Hälfte seines Haupthaares, aber kein bisschen von seiner Überzeugung, unersetzlich zu sein. Er saß, die Arme vor dem runden Bauch verschränkt, hinter seinem Schreibtisch. Diese Körpersprache hielt Talley für ein Zeichen von Überlegenheit. Sein dünnes Resthaar bewegte sich im Luftstrom eines Tischventilators, den er immer zusätzlich zur Klimaanlage einschaltete. Trotzdem arbeiteten sich die Schweißflecken unter den Achseln bis zur Brusttasche seines Hemdes vor.
„Das ist richtig“, sagte er in einem gönnerhaften Tonfall, „die Nalanda Star ist wieder aufgetaucht. Gott sei´s gedankt. Wir haben die Meldung gerade hereinbekommen. Aber ich weiß wirklich nicht, Mister Finney, wie ich Ihnen in Ihrer Angelegenheit weiterhelfen kann.“
Stumm verfluchte Leonard den Mann als nassen Bürosack. Zu ihm vorzudringen, hatte sich schon als schwierig herausgestellt. Ihn zur Kooperation zu bewegen, erwies sich als unmöglich. Auch Leonards Verdacht, das grausame Schicksal seiner Eltern sei womöglich mit diesem Frachter verbunden, bewegte Talley keinen Millimeter. Nur ein Feuer unter seinem fetten Hintern konnte diesen Mann hinter dem Schreibtisch oder seiner Selbstgefälligkeit hervorjagen. Viel hatte Leonard sich von dem Gang zur Reederei nicht versprochen. Er kam, weil er etwas tun musste . Den Grund für den Tod von Martha und Evan zu erfahren. Den Schmerz darüber zu dämpfen. Selbst das Wenige wurde ihm nun von diesem schwitzenden Idioten verwehrt.
Die Tür flog auf und ein kräftiger Mittvierziger mit grauen Schläfen marschierte ein. Der Auftritt vollzog sich in einer Dynamik, dass Leonard vermutete, diesem Mann gehöre die Reederei. Tatsächlich besaß Dallin Runciman bereits eine komfortable Beteiligung an der Firma. Den Rest würde er in absehbarer Zeit den verbliebenen Teilhabern entreißen.
Wie an Strippen gezogen richtete sich Talley auf, noch bevor Runcimans zweiter Fuß den Boden des Büros berührte.
„Verdammter Mist, Talley. Ausgerechnet jetzt fehlt die Hälfte der Belegschaft!“
Sein polternder Ton passte nicht in seinen maßgeschneiderten Anzug. Runciman stemmte die Arme in die Hüfte. Erst Sekunden später registrierte er Leonards Anwesenheit.
„Entschuldigen Sie die Störung“, sagte er, „aber wir haben hier gerade ein verdammt heikles Problem.“
In gebückter Haltung mühte sich Talley, kleiner zu erscheinen.
„Das ist Mister Finney. Wir waren mit unserer Besprechung sowieso gerade fertig.“
Leonard erhob sich.
„Ich glaube, ich kenne Ihr Problem. Ich hatte gerade den Vorschlag gemacht, an der bevorstehenden Untersuchung der Nalanda Star teilzunehmen.“
„Ach!“
Kurz taxierte Runciman seinen Büroleiter, der unsicher die Augen niederschlug, und wandte sich wieder Leonard zu.
„Sind Sie von der Presse? Oder von der Versicherung?“
Die Frage enthielt einen verächtlichen Unterton. Beide Berufsstände setzte Runciman mit niederen Lebensformen gleich. Leonard verneinte und wiederholte, was er bereits dem Büroleiter erzählt hatte.
„Traurige Geschichte. Mein Beileid, Mister Finney“, sagte Runciman. „Aber wie, glauben Sie, könnten Sie uns bei der Sache behilflich sein?“
Talley, der Leonard für seine Dreistigkeit innerlich mit Verwünschungen überhäuft hatte, garnierte diese Frage mit einem breiten Grinsen.
„Ich war fünf Jahre bei der Navy“, entgegnete Leonard ruhig. „Ich kenne mich auf Schiffen aus.“
Zum ersten Mal erwähnte er Fremden gegenüber seine Militärzeit, die er sonst zu verdrängen suchte. Damals war es tägliche Routine gewesen. Er hatte Waffen abgefeuert, Sprengsätze gelegt. Absolvierte Überlebenstraining und probte Nahkämpfe. Inzwischen stand all das so wenig lebhaft in seinem Gedächtnis, als habe es ein anderer erduldet, ihm nur davon erzählt. Runciman zeigte sich beeindruckt.
„Aha. Navy. Gedient. Meine Hochachtung“, sagte er stramm, „Woher stammen Sie?“
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