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Das Auge der Seherin

Das Auge der Seherin

Titel: Das Auge der Seherin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victoria Hanley
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Landen fragte sich, ob die Zuschauer wussten, dass er ein Fremder aus dem ,Land der Feiglinge' war, wie Beron Bellandra nannte. Wenn sie es wüssten, würde das einen Unterschied für sie machen? Oder würde ihre typische Gleichgültigkeit und ihre Wertschätzung kriegerischer Kunstfertigkeit obsiegen?
    Dann trat Beron mit finsterer Miene in den Schießstand und zielte langsam und sorgfältig. Sein erster Pfeil traf genau in die Mitte. Jubel brach aus. Er legte den nächsten Pfeil an. Landen hörte, wie Zeon neben ihm laut einatmete. Der Junge knirschte mit den Zähnen. Aber er sagte nichts. Eine Ewigkeit schien zu verstreichen, während Beron, dessen Rückenmuskeln stark hervortraten, mit gespannter Sehne da stand und zielte. Als er endlich schoss, landete der Pfeil unmittelbar rechts neben dem ersten Pfeil. Wieder brachen bewundernde Rufe aus.
    Diese langsame Prozedur wiederholte sich und der dritte Pfeil traf genau zwischen den ersten zwei. Landen holte tief Luft. In Bellandra wurde die Kunst des Bogenschießens nach drei Kategorien beurteilt: Zielgenauigkeit, Schnelligkeit und Haltung. Die zweite und dritte Kategorie schienen hier nicht zu zählen, denn Beron verzog finster das Gesicht und nahm sich sehr viel Zeit. Der vierte Pfeil ging los und verfehlte knapp das Schwarze. Wütend warf Beron den Bogen zu Boden. Enttäuschtes Murren stieg aus der Menge auf. Zeon hüpfte neben Landen auf und ab, ergriff seinen Arm und schwenkte ihn hin und her. Landen entdeckte Torina, die ihm zulächelte und winkte. Kareed und Königin Dreea klatschten in die Hände. Der Sieger hörte den Applaus kaum. Ob die erwachsenen Zuschauer wussten, wer er war, war ihm gleichgültig. Für ihn zählte nur, dass Eric stolz darauf sein konnte, sich mit ihm angefreundet zu haben. Er hatte die Ehre seines Heimatlandes gerettet, zumindest in den Augen der anderen Jungen. Er konnte den Kopf wieder hoch tragen, auch wenn er im Faustkampf eine schlechte Figur machen würde.
    Kareed legte den drei Jungen die Siegergirlanden um und lobte ihren Eifer und ihr Können. Landen hielt die Augen gesenkt, bis der König ihm die Hand zum rituellen Gruß reichte. Er schluckte hart und hielt dem bohrenden Blick aus den feurigen grünen Augen stand. War es ein Fehler gewesen, sich auf diese Weise in den Vordergrund zu drängen? Doch Kareed schien ihm das nicht übel zu nehmen, seine Glückwünsche waren aufrichtig.
    Dann spürte er am Arm eine zarte Berührung. Torina, die dicht hinter ihrem Vater stand, streckte ihm die Hand entgegen. Er drückte sie und erwiderte ihr Lächeln.
    Kareed erhob die Arme. „Die Musik möge beginnen!" Die Menschen verließen die Zuschauerbänke, schwenkten Federn, warfen mit Blüten um sich und unterhielten sich.
    Stolz und erschöpft ließ sich Landen von Eric auf die Schulter klopfen. Er schüttelte seinem Freund die Hand. Dann ging Eric zu Phillt und den anderen Jungen und forderte Landen auf, sich ihnen anzuschließen.
    Landen jedoch sehnte sich danach, allein zu sein. Unbekannte hielten ihn an und gratulierten ihm. Er bedankte sich bei jedem und nannte ihnen seinen Namen. Wenn er nach seinen Eltern gefragt wurde, antwortete er nur, er sei Waise und zog sich höflich zurück. Erschöpft ging er zu den Bäumen, die den Festplatz umstanden. Im Schutz ihrer Äste ging er weiter in Richtung Meer und genoss das sanfte Grün der Blätter und den weichen Erdboden unter seinen Füßen. Das Zwitschern der Vögel war Musik in seinen Ohren. Dieser Augenblick war wirklich unendlich. Er dachte daran, was sein Vater ihm geduldig beigebracht hatte. Ich bin zu einem künftigen König erzogen worden. Doch die Zukunft, die mir bestimmt war, existiert nicht mehr. Jetzt bin ich nur noch ich selbst. Er ließ die Bäume hinter sich und kam auf eine steinige, ebene Strecke, über die er weiter in Richtung Felsufer ging. Unter seinen Füßen glimmerten Kieselsteine.
    Es gibt kein Königreich mehr, das mir meinen Weg vorgibt. Er erreichte das Felsufer und starrte hinaus aufs Meer und dachte an die Brandung der Bellanbucht. Er richtete den Blick zur Sonne, die strahlend am Himmel stand. Er fühlte sich weit wie der Horizont und bewegt wie die Wellen, die sich tief unter ihm brachen. Er blickte auf das tobende Wasser hinab, das von weit draußen kommend gegen die Felsen sprühte, und er dachte darüber nach, dass sein Leben sich vielleicht noch häufiger ganz und gar ändern würde. So in Gedanken versunken hörte er nicht, wie Beron hinter ihm

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