Das Auge der Seherin
ließ los. Er bezwang das Zittern seiner Arme und schoss noch dreimal hintereinander. Zeon strahlte ihn an. Alle vier Pfeile hatten fast genau in die Mitte getroffen. Nun waren die Jungen hinter ihm an der Reihe. Schweigend stellte sich Landen neben Jolten und versuchte seine Benommenheit abzuschütteln. Er versuchte an etwas Beruhigendes zu denken und erinnerte sich plötzlich der Worte der alten Königin Ancilla. „Denkt dran, Ihr könnt trotzdem der Sohn sein, auf den Euer Vater stolz gewesen wäre."
Er sah um sich, sah dieses fremde Land und mit einem Mal verstand er. Kareed hat das Schwert geraubt und meinen Vater getötet. Doch seine Tochter hat mir das Leben wieder geschenkt. Es ist mein Leben und ich muss es nutzen. Solange ich lebe, lebt auch Bellandra.
Er wandte sich wieder dem Spielfeld zu und sah, dass schon die meisten älteren Jungen ihre Pfeile abgeschossen hatte. Neben ihm standen jetzt die beiden anderen Jungen seiner Gruppe, die übrigen waren aus dem Spielfeld gegangen. Er war in der Endrunde. Nun war Eric an der Reihe. Er schlug sich tapfer, besser als noch vor einiger Zeit, aber er gehörte nicht zu den drei Besten. Als die Sieger verkündet wurden, war Beron, wie erwartet, unter den Besten seiner Altersgruppe.
Dann kam erst einmal die Mittagspause. Die Zuschauer ließen sich in bunten Grüppchen nieder und aßen und tranken vergnügt, die Jungen erhielten ihre Mahlzeit auf dem Spielfeld. Soldaten hielten mit ruhiger Hand Stoffschirme über sie. Mit dem Essen wurde nicht geknausert und Landen merkte, dass er zum ersten Mal seit dem Fall von Bellandra Hunger verspürte. Während seiner Gefangenschaft bei Vesputo und des albtraumhaften Rittes nach Archeld hatte er mechanisch gegessen, was ihm gegeben wurde, ohne darauf zu achten was es war. Dann kam die Ankunft und die quälenden Wochen unter der Fuchtel von Beron. Und nun ... Landen lächelte. Nun war er hungrig.
Das Essen war ausgezeichnet. Weicher, duftender Käse, lockeres, schmackhaftes Brot, köstliche Suppen mit würzigen Kräutern und gefüllte Hühner, die langsam im eigenen Saft gegart worden waren. Landen aß fast wie im Rausch, bedächtig und jeden Bissen genießend. Er sah sich eifrig um, als sei er eben erst angekommen. Er sah die vielen Zuschauer, sah die Farbenpracht ihrer Kleider, die wie ein flatterndes Banner im Sonnenlicht ineinander verschmolzen. Üppiger Blumenschmuck bedeckte Köpfe und Schultern. Überall lächelnde, plaudernde Menschen, Musikanten, deren Stimmen und Instrumente die Luft festlich erfüllten, und über allem das blaue Himmelszelt.
Schließlich gab der König das Zeichen für die letzte Runde. Die Sieger der Endrunde sollten noch gekürt werden und dann würde bis in den Abend gespielt, getanzt und gefeiert.
Zeon, Westol und Frin, alle drei nervös und stolz, kamen als Erste an die Reihe. Zeon gewann klar und wurde von Emid zum Sieger ausgerufen. Der Junge stand allein auf dem Siegerpodest und wartete mit roten Wangen und strahlenden Augen auf die Sieger der zwei anderen Gruppen.
Landen kam an die Reihe. Er war völlig ruhig. Zwei seiner Pfeile trafen so dicht nebeneinander, dass sie von weitem aussahen wie einer. Alle vier Pfeile trafen ins
Schwarze. Er gewann die Ausscheidung in seiner Gruppe ohne Mühe. Emid erklärte ihn zum Sieger und er stellte sich neben Zeon auf.
Als nächstes traten die drei älteren Jungen gegeneinander an, Beron, Phillt und Bendes. Landen wusste, dass Eric Phillt den Sieg wünschte. Aber es sollte nicht sein. Ein plötzlicher Windstoß überraschte den Bogenschützen, so dass einer seiner Pfeile knapp die Zielscheibe verfehlte. Beron traf mit allen Pfeilen ins Schwarze, er zielte jedesmal langsam und genau, dann gesellte er sich arrogant lächelnd zu den anderen Siegern. Emid gebot mit einem Zeichen Ruhe und verkündete, dass die drei Sieger zum Abschluss, aus rein sportlichem Vergnügen, gegeneinander antreten sollten. Zuerst kam Zeon. Er hatte seine beste Runde an diesem Tag und traf mit allen vier Pfeilen ins Schwarze. Er stand neben Landen und hüpfte vor Glück auf und ab, die Zuschauer jubelten ihm zu.
Landen fühlte sich unbeschwert und sicher, als er seinen ersten Pfeil anlegte. Er landete genau im Schwarzen. In schneller Folge schoss er die übrigen drei Pfeile ab. Alle landeten im Schwarzen und bildeten ein exaktes Rechteck. Das Publikum applaudierte enthusiastisch. Die Menschen von Archeld liebten nichts so sehr, wie die perfekte Ausübung der Kriegskünste.
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