Das Auge der Seherin
jemanden angesehen. Kareed
und Dreea waren dagewesen und gleich nach dem Segensspruch wieder gegangen.
Torina wiegte sich sanft hin und her und sah zu, wie der Wind an den Grabblumen zerrte. Trotz ihrer Erschöpfung wollte keine Müdigkeit aufkommen. Vielleicht kann ich nie mehr schlafen.
Vor ihr breitete sich ihr Leben als Wüste zerschlagener Hoffnungen aus.
Ich bin fünfzehn, und wenn ich so alt wie Großmutter werde? Wie soll ich die kommenden Tage, Wochen und Jahre nur ertragen?
Sie dachte an Vesputo und spürte ihr Herz wie einen harten, kalten Stein in der Brust. Sie wusste, um ihrer selbst willen durfte sie so nicht empfinden. Wäre die Großmutter da gewesen, hätte sie verstanden den Stein in ihrer Brust aufzubrechen.
Großmutter. Ich war mit dir und habe dich geliebt. Du bist gegangen und ich kann dir nicht folgen, bis zum Ende meiner Tage. Sie blickte zum Himmel empor, der sich grau und kalt über ihr wölbte. Wo war Ancilla jetzt? Sie schloss die Augen und versuchte die Großmutter zu finden. Sie spürte einen Hauch der Liebe, die sie im Augenblick von Ancillas Tod empfunden hatte. Kurz fühlte sie sich eins mit ihrer Großmutter. Sie war da, sie würde immer da sein. Sie hatte gesagt, ihre Liebe würde niemals enden.
Torina öffnete die Augen und schreckte zurück, als sie Mirandae erblickte, die auf sie hinunterstarrte. Das liebliche Gefühl verflog, sie machte die Augen wieder zu und versuchte es zurückzurufen.
Mirandae beugte sich zu ihr hin und legte den Arm um sie. „Kommt, Prinzessin, ruht Euch aus." Immer noch auf der Suche nach ihrer Großmutter, schüttelte Torina den Kopf.
„Es ist das Beste für Euch. Ihr müsst Euch für das Fest richten. Der König und Vesputo wollen auf Eure bevorstehende Hochzeit anstoßen."
Ihre bevorstehende Hochzeit! Sie erwarteten doch nicht etwa ... aber sie hatte niemandem etwas gesagt ... in all den trostlosen Stunden der Nacht hatte sie nicht einmal mit ihrer Mutter gesprochen ... hatte überhaupt nicht sprechen können.
Sie löste sich aus Mirandaes Arm und sagte rau: „Ich werde nicht dabei sein."
„Ihr müsst", drängte Mirandae, „alle erwarten Euch." „Ich möchte hier bleiben", erwiderte Torina mühsam. „Ich möchte bei Großmutter sein."
Jetzt ist nicht die Zeit für die Toten", belehrte sie die Dienerin. „Ihr werdet bald heiraten." „Ich kann jetzt nicht heiraten, Mirandae." „Nicht heiraten! Was redet Ihr da? Was soll ich nur mit Euch machen?"
Torinas vom Weinen verquollene Augen, verengten sich zu Schlitzen. „Lass mich allein", befahl sie in herrischem Ton.
Mirandae drehte sich auf dem Absatz um und ging. Torina starrte ihr wütend nach. Keine Zeit! Ihre Großmutter hatte sie geliebt, weise, geduldig, viele Jahre lang, und jetzt sollte sie sie in einem Tag vergessen? Sie starrte auf den Grabstein. Das Leben ist lang und geht schnell vorüber.
Aus den Augenwinkeln nahm sie eine Gestalt war. Es war Landen, der einen schweren Umhang und seine Waffen trug. Er näherte sich und setzte sich neben sie.
„Es tut mit Leid", sagte er. „Ich weiß, wie sehr Ihr sie geliebt habt."
Sein Ernst und seine Ruhe ließen endlich wieder ihre Tränen fließen.
„Ihr seht schlecht aus, Prinzessin. Soll ich Euch nach Hause begleiten?"
Sie schüttelte den Kopf, unfähig ein Wort zu sagen. Schweigend saß er neben ihr, sie spürte, wie ein Tuch in ihre Hand gelegt wurde. Dankbar wischte sie sich übers Gesicht.
„Prinzessin, wegen gestern, ich ..." „Ich weiß."
„Ich weiß, wie sehr Ihr trauert. Es tut mir Leid, dass ich
jetzt komme. Aber ich möchte Euch Lebewohl sagen.
Ich habe nicht mehr viel Zeit."
„Lebewohl?" Verwirrt schaute sie auf.
„Seid Ihr froh oder traurig, wenn Ihr erfahrt, dass ich
Euer Königreich verlasse?"
„Archeld verlassen? Warum?"
Er nahm ihre Hand und streichelte ihre Finger. Seine Augen glühten wie von einem verborgenen Feuer. „Es gibt Gerüchte, ich wolle den König umbringen." Der Schrecken ließ sie wieder klar denken. „Meinen Vater töten? Warum?"
Landens Brust hob und senkte sich schwer. „Um Bellandra zu rächen."
„Aber Landen, das ist doch schon so lange her." „Ich habe nicht vergessen."
Er sprach diese Worte ruhig aus, aber die Glut in seinen Augen machte ihr Angst. Sie sprang auf und wich zurück.
„Ihr wollt ihn töten?"
Er erhob sich und war in zwei Schritten bei ihr. „Nein, Prinzessin. Nicht ich will ihn töten. Vesputo will seinen Tod."
Landen stützte sie, sonst wäre
Weitere Kostenlose Bücher