Das Auge der Seherin
schicken lassen?" Ein mildes Lächeln huschte über Ancillas Antlitz und sie ließ eine Hand in die Hand ihrer Enkelin gleiten. Eine Hand so klein und mager, als bestünde sie nur aus Knochen und knotigen Adern, die Haut beinahe durchscheinend.
„Mein Liebling, für die anderen ist heute ein ganz gewöhnlicher Tag."
„Bitte ..." Torina presste ihre weiche Wange an die Pergamenthaut, die sich über Ancillas Gesicht spannte, als wolle sie der alten Hülle ihre eigene, pulsierende Lebenskraft einflößen. „Nicht jetzt. Ich brauche Euch noch."
„Mein liebstes Kind", sprach Ancilla matt, „ich werde gerufen. Wenn ich dagegen ankämpfe, werde ich kämpfend sterben. Wenn ich darauf höre, sterbe ich in Frieden."
„Könnt Ihr nicht ein bisschen noch bleiben?" ,Ach, Liebes, ich habe so lange gelebt ... so viel gesehen."
Torina richtete sich auf und blickte in die schwächer werdenden, freundlichen Augen, in denen so viel Liebe und Weisheit lag.
„Du bist so klug, mein Kind. Sicher hast du meinen Tod
in deinem Kristall gesehen?"
Das Mädchen nickte und begann zu weinen.
,Ah."
„Soll ich die anderen rufen, Großmutter?" „Nein ... dafür ist keine Zeit mehr. Bleib bei mir und höre. Ich habe dir etwas zu sagen ..." „Wegen Vesputo ...?"
„Nein ... nicht Vesputo. Deine Gabe, mein Kind, ist ein seltenes Geschenk. Es ist dir von einer Macht geliehen worden, die größer ist als du. Solange du sie besitzt, denke immer daran, dass sie nicht dir allein gehört. Nutze sie zum Nutzen anderer - immer ..." Torina hatte das Gefühl, als bündele sich der Geist der Großmutter zu einem letzten Strahl von Kraft, bevor er vergehen würde. Die alten Augen strömten Liebe aus und hundert Weisheiten, die nicht ausgesprochen werden konnten.
Ancilla seufzte auf und das Licht ihrer Augen erlosch. „Mein Leben ist zu Ende", flüsterte sie. „Meine Liebe zu dir wird niemals enden."
Torina spürte den Geist ihrer Großmutter aufsteigen, sich ausdehnen und sie in eine helle Wolke von Liebe einhüllen, die wie ein Abschiedskuss einige Augenblicke bei ihr verharrte.
Dann flog sie davon und Torina war allein mit Ancillas leerer Hülle.
Sie vergrub das Gesicht in dem ausgelaugten Busen. Ach, Großmutter, du bist die Einzige, mit der ich immer sprechen konnte, die mich verstanden hat. Du hast mich nicht wegen meiner Krone geliebt. Ich brauche dich doch jetzt. Ich habe dich nicht mehr fragen können, was ich wegen Vesputo machen soll. Ich habe dich nicht gefragt, und du wärst die Einzige gewesen, die mir raten und mit meinen Vater hätte sprechen können.
Erschöpft legte sie sich neben den toten Körper und beobachtete den Widerschein der flackernden Kerzen an der Wand. Die Zukunft, am Morgen noch so rosig und heil, klaffte jetzt vor ihr wie eine hässliche Wunde.
Dreea kam.
„Torina", sagte sie und legte den Arm um ihre Tochter, „ich weiß, wie du dich jetzt fühlst" Nein. Niemand weiß es. Keiner hat sie so gekannt wie ich. „Papa?", krächzte sie zwischen ausgetrockneten Lippen.
„Boten sind ausgeschickt, ihm vom Tod seiner Mutter zu
berichten."
Der Tod.
„Die Beerdigung muss morgen stattfinden, vor dem Fest. Das lässt sich nicht mehr aufschieben. Sie hat sich in den letzten Jahren sehr zurückgezogen - es wird kaum jemand kommen."
Oh, Großmutter. Keine Zeit, nicht einmal für deine Beerdigung. In den letzten Jahren ... und was ist mit den vielen Jahren davor? Du hast so lange gelebt, und jetzt bin ich die Einzige, die dich vermisst.
Von welchem Fest sprach die Mutter? Da war etwas ... sie überlegte, aber es fiel ihr nicht ein. Sie legte sich wieder hin, am ganzen Körper von Schmerz geschüttelt. „Sie sollen sie noch nicht wegbringen", flehte sie. Dreea nickte und zog ihren Stuhl heran. Die Königin wachte die ganze Nacht bei ihrer unruhigen, trauernden Tochter. Schweigend saß sie neben ihr, bis der Morgen heraufbrach.
Am Spätnachmittag des folgenden Tages saß Torina allein an Ancillas Grab.
Der Himmel war bedeckt. Auf der frischen Erde lagen Berge von Blumen. Der Grabstein war schlicht, wie Ancilla es gewünscht hatte. Sie hatte sich selbst ihren Grabspruch ausgewählt:
Das Leben ist lang und geht schnell vorüber. Nachdem die Trauergäste gegangen waren, war Torina allein zurückgeblieben. Auch ihre ständigen Aufpasserinnen waren fort. Das ganze Schloss schien in geschäftigen Vorbereitungen zu sein, die Torina jedoch kaum wahrnahm. Vom Kummer benebelt hatte sie bei der kurzen Trauerfeier kaum
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