Das Auge der Seherin
sie gehört hätte, dass Soldaten das ganze Land nach Landen durchkämmten und er bestimmt nicht weit käme? Ihr Herz raste vor Zorn, wenn sie daran dachte, dass er des Mordes am König beschuldigt und gejagt wurde. Aber eine innere Stimme warf ihm vor, sie im Stich gelassen zu haben, als sie ihn am Nötigsten brauchte. Warum hatte er sie nicht früher gewarnt? Es war alles zu spät. Zu spät.
Verzweifelt sehnte sie sich nach der Großmutter, und ihr einziger Trost war, dass genug Zeit gewesen war, sich in Würde von ihr zu verabschieden. Das aber lenkte ihre Gedanken auf den Vater. Ständig sah sie ihn vor sich, wie er darauf wartete, dass sie sprach. Wie furchtbar und unwiederbringlich der Tod doch war. Sie hatte ihn nicht einmal ein letztes Mal sehen können, bevor er fortgeschafft wurde.
Und ihre Mutter! Jeden Tag kam Dreea an ihre Tür und flehte um Einlass. Und jeden Tag zwang sich Torina sie fortzuschicken, hörte ihr verzweifeltes Schluchzen und hasste Vesputo umso mehr.
Er besuchte sie oft und fragte sie jedes Mal über den Kristall aus. Sie spielte die Rolle des verunsicherten, dummen Mädchens, das versuchte, einem widerspenstigen Stein Vorhersagen abzuringen. Sie tat alles, um ihn davon zu überzeugen, dass der Kristall ihr nur gelegentlich die Zukunft zeigte und dass das, was sie sah, sie meist nur verwirrte.
„Was hat er dir über deine eigene Zukunft gezeigt", fragte er eines Tages.
„Meine eigene Zukunft habe ich nie gesehen", sagte sie und hoffte, diese wahre Antwort würde den vielen Halbwahrheiten, die sie ihm erzählte, einen aufrichtigen Ton verleihen.
„Ach. Und was weißt du über meine Zukunft?" „Ich habe Euch nur mit der Krone auf dem Haupt gesehen, mehr nicht."
Ein triumphierendes Lächeln schlich sich in seine Augen. „So." Die Antwort hatte ihm offensichtlich gefallen. „Warum warst du an jenem Tag bei Kareed in seinen Privatgemächern?"
An jenem, Tag. Dem Tag, als er starb. Dem Tag, als alles anders wurde.
„Ich wollte ihm sagen, dass ich Euch nicht heiraten will."
„Warum? Warum wolltest du mich nach meiner Rückkehr nicht sehen?" „Ich hatte von Irene gehört." „Du hast nicht aus dem Kristall von ihr erfahren?" „Nein."
„Wer hat es dir dann gesagt?" „Ich weiß nicht mehr." „Du lügst."
„Und Ihr, Vesputo. Ihr wisst nicht einmal was Wahrheit ist."
Sein Anblick erfüllte sie mit Abscheu. Er sah sie halb belustigt und geringschätzig an. „So ist es vielleicht am besten, meine Liebe." Sie war froh, als er sich erhob. Also wollte er gehen. Lieber hörte sie sich Irenes Geschnatter an, als seine Gegenwart zu ertragen. „Deine Trauerzeit ist bald vorüber. Bald werden wir Mann und Frau sein. Dann bekommst du deinen Kristall wieder zurück. Du musst lernen, ihn besser zu nutzen und mir alles sagen, was du darin siehst."
An diesem Abend gab sich Irene besondere Mühe mit Torina. Sie schwirrte um sie herum, lachte und schmeichelte.
„Ich bin müde, Irene. Ich gehe zu Bett."
„Aber ja. Soll ich Euch die Haare bürsten? So schönes
Haar, wie es leuchtet im Schein des Feuers!"
„Nein, danke."
„Torina, würdet Ihr mir bitte eine kleine Frage beantworten?" „Was denn?"
„Wie funktioniert der Kristall?"
Torina lächelte verstohlen. „Du darfst aber Vesputo nichts verraten. Nur eine Frau kann daraus die Zukunft lesen."
Irene nickte eifrig.
„Ich verrate bestimmt nichts."
„Du musst ihn erst bei Vollmond hinaus ins Freie nehmen und dann wieder bei Neumond. Du musst aber ganz allein sein. Das war für mich immer sehr schwierig. Und dann, Irene, zeigt er dir die Zukunft."
Landen umging ohne Schwierigkeiten die Wachposten an der Grenze. Als er nach Desante kam, ritt er einen halben Tag lang ohne Pause, um Archeld möglichst weit hinter sich zu lassen. Dann suchte er einen großen, einsam gelegenen Bauernhof auf, wo er seinen Hengst gegen eine weniger wertvolle, desantische Stute und etwas Geld eintauschte.
Landen ritt bis zu einem geschäftigen Städtchen unweit von Desan, der Hauptstadt von Desante. Nachdem er sich die Menschen genau angesehen hatte, kaufte er eine warme, schwarze Hose, ein weites, dunkelrotes Hemd, kräftige Stiefel und eine gesteppte Daunenjacke. Die meisten Männer in Desante trugen gestutzte Bärte und Landen war froh, sich seit Archeld nicht mehr rasiert zu haben. In wenigen Tagen würde er als Einheimischer durchgehen können. Seine alte Kleidung, auch den dicken Mantel, schenkte er einem Bettler. Schmutz und Entbehrung
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