Das Auge der Seherin
einlassen. Der Krieger tritt freiwillig an. Sieh doch die Leute - sie geben ihren ganzen Lohn für das Schauspiel her. Das bringt dem König Geld für seine Truppen ein. Es heißt, bald gäbe es wieder Krieg."
„Aber Jern hat mir erzählt, es gäbe eine andere Regel, nach der müsse niemand getötet werden." „Ach was. Das ist schon lange her. Es gibt diese Regel, aber das ist nichts für Tamand. Wieso sollte er das Leben eines Verbrechers schonen und auf seinen Lohn verzichten?"
„Aber warum gibt es dann diese Regel?" „Es heißt, früher hätten die Krieger ihre Gegner laufen lassen, wenn sie sich ehrenvoll geschlagen hatten. Mach dir darüber keine Gedanken, mein Sohn. So etwas gibt es heute nicht mehr."
Der Vater und der Junge beschleunigten ihre Schritte und Landen folgte ihnen. König Ardesen unterstützte also diese blutrünstigen Spiele als eine Art Vergnügungssteuer, um seine Grenztruppen zu finanzieren. Angewidert und gleichzeitig bewundernd schüttelte Landen den Kopf. Zweifellos förderte er diese Einnahmequelle auch noch. Was für eine grausige Erfindung! Ein armer Krieger konnte sich Reichtum erkämpfen, indem er einen Verbrecher tötete. Und der verzweifelte Gefangene konnte sich die Freiheit erkaufen, wenn er den Krieger besiegte! Egal wer von beiden umkam, der König verdiente immer dabei, denn die Männer, Frauen und Jungen von Desante eilten in Scharen herbei, trotz der Kühle des einsetzenden Herbstes.
Landen fragte sich, ob der König dem blutigen Spektakel persönlich beiwohnen würde. Überreichte er selbst die Preise? Und wie oft fanden solche Kämpfe statt? Landen zahlte den Eintritt, obgleich er keine Neigung verspürte, dem Schaukampf zuzusehen. Er betrat ein großes, kreisförmig gebautes Amphitheater, in dem sich die Zuschauer auf stufenförmig angeordneten Sitzreihen drängten. Unten befand sich eine runde, von einer Mauer umgebene Arena, die vielleicht dreißig Schritt im Durchmesser maß. Sie war leer. Landen fand einen freien Platz und sah den hereinströmenden Menschenmassen zu, die einen unerhörten Lärm machten. Den König konnte er nicht entdecken.
Obgleich die Sonne schon weit im Westen stand, war es noch sehr hell. Dann betrat ein Mann die Arena. Sein Auftreten wirkte herrisch und als er die Arme ausbreitete, versank die Menge in Schweigen. Mit erhobener Hand gab er ein Zeichen und herein tänzelte ein Mann in Lederrüstung und einem funkelnden Schwert. Die Menge begrüßte ihn mit begeisterten Hurrarufen. Der Mann warf den Zuschauern Handküsse zu, lächelte und verbeugte sich, als hätte er eben eine großartige Tat vollbracht. Landen schüttelte den Kopf. Tamand war hübsch und trat großspurig auf. Landen begriff nicht, wie ein Mann so dumm sein konnte, freiwillig sein Leben aufs Spiel zu setzen.
Eine weitere Tür wurde geöffnet und ein dritter Mann stürmte in die Arena. Auch er hatte ein Schwert, trug jedoch nur einen Lendenschurz. Landen erkannte in der kräftigen, beweglichen Gestalt sofort den Ringer, dessen Armen und Beinen, obgleich er ein wenig kleiner als Tamand war, eine trügerische Kraft innewohnte. Tamand hatte sein Augenmerk immer noch auf die Zuschauer gerichtet, als sein Gegner zum Angriff schritt. Ein warnender Aufschrei ging durch die Menge und im letzten Moment drehte er sich um und begegnete der ungeheuren Wucht des Schwertschlages. Tamand machte einen Satz zur Seite, wurde jedoch am Bein getroffen. Entsetzt starrte er auf sein Blut, das auf die glänzenden Steinplatten der Arena spritzte und schrie auf. Der Andere wartete nicht. Wieder schlug er zu, diesmal zielte er auf das Herz seines Gegners. Dann stand er lauernd da und beobachtete, wie der Krieger schnell verschied. Bevor die Zuschauer überhaupt begriffen hatten, was passiert war, kamen Wachen in die Arena und führten den Gefangenen ab, vermutlich in die Freiheit. Benommen blickte Landen auf den toten Körper dort unten, der wie hingeschleudert in einer Blutlache lag, der eine Arm verdreht und immer noch das hübsche Schwert umfassend. Die Menschen saßen da wie vom Donner gerührt.
Dann erhob sich enttäuschtes Gemurmel auf den Zuschauerbänken. Sie hatten für einen Schaukampf gezahlt, und jetzt sollte alles schon vorbei und ihr Favorit gestorben sein, ohne auch nur ein Mal das Schwert erhoben zu haben? Schimpflich gestorben im Angesicht seiner Wunden.
Mit einem Mal waren überall Soldaten zwischen den Zuschauerbänken, die die murrende Menge durch die Tore hinaus auf die Straße
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