Das Auge der Seherin
robusten Stuhl, den Tesh für sie gezimmert hatte, und sah ins Feuer.
Ihre Gedanken flackerten ziellos hin und her, wie die Flämmchen über den Holzscheiten. Sie versuchte, ihre Tränen hinunterzuschlucken, aber ihre Kehle war wie zugeschnürt. Zwei Jahre war es her, seit sie ihre Mutter, ihre Heimat und ihre Freunde zuletzt gesehen hatte. Zwei Jahre im Exil, eingeschlossen in ein Dorf, das zu klein für einen eigenen Namen war. Ihr feuriges Temperament war auf ein mattes Schwelen geschrumpft. Sie hatte versucht, die Vergangenheit beiseite zu schieben und sich mit ganzer Kraft ihren neuen Aufgaben zu widmen. Aber in letzter Zeit wurde sie immer häufiger von den Geistern der Vergangenheit bedrängt. Sie steckte die Hand in die Tasche und berührte schaudernd den Kristall. Sie bewahrte ihn immer in ihrer Nähe auf, obwohl sie ihn fast wieder weggeworfen hätte, als sie das letzte Mal hineingesehen hatte. Das war vor Lindsas Hochzeit gewesen. Der Kristall hatte ihr das Grab von Eric gezeigt. Der Gedanke an seinen Tod quälte sie, denn sie war überzeugt, dass Vesputo ihn umgebracht hatte, weil er ihr Amber überlassen hatte. Mit seinem Tod gab es niemanden mehr in Archeld, der wusste, dass sie am Leben war.
Unter ihrem Bett befand sich eine Schachtel mit Schreibutensilien und Papier. Manchmal schrieb sie Briefe an ihre Mutter, die sie dann unter ihrer Matratze verbarg. Aus versprengten Nachrichten wusste sie, dass Dreea lebte. Sie sehnte sich nach der sanften, liebevollen Stimme der Mutter. Besonders nachts, wenn sie schweißgebadet aus Albträumen erwachte und ihr Herz wie rasend hämmerte. Aber das Leben ihrer Mutter würde sie niemals aufs Spiel setzen, also blieben die Briefe, wo sie waren.
Sie erhob sich und ging ruhelos auf und ab. Es erschien ihr unerträglich, auch nur einen Tag länger in dieser bedrückenden Abgeschiedenheit zu leben. Sie fragte sich, was die Menschen, die sie von früher kannten, sagen würden, wenn sie sie hier sähen. Was würde ihre Mutter sagen oder die Großmutter?
Großmutter würde mir raten, einen Ausweg zu suchen. Und sie würde mich verstehen. Und meine liebe, sanfte Mutter ? Sie würde mich lieben, immer lieben, aber verstehen würde sie mich nicht. Und Vater? Er würde kämpfen und auf Sieg setzen. Und Landen ? Was soll's! Er ist fort.
Torina öffnete die Tür und blickte hinaus in den dunklen Wald, den sie auf ihrer wagemutigen Flucht vor Vesputo durchquert hatte.
Flucht! Ja, das war es. Sie war aus Archeld geflohen, aber im Herzen hatte sie es nie hinter sich gelassen. Sie musste sich ihre eigene Zukunft schaffen und wieder neu anfangen zu leben.
Der Kristall fühlte sich kalt und gefährlich an. Sie schloss fest ihre Finger darum. „Bitte", flüsterte sie. „Bitte zeige mir die Zukunft."
Er spiegelte jedoch nur ihr eigens müdes Antlitz wider, das verkleinert in den herabtropfenden Tränen verschwamm. Sie wartete und flehte sehnsüchtig die Zukunft herbei.
Da rührte sich etwas in der Tiefe des Steins und ein gleißendes Licht erhellte ein wunderschönes Schwert. Verwirrt runzelte Torina die Stirn. An seinem Griff schimmerten kunstvoll getriebene Monde und Sterne. Ratlos sah sie es an.
Das Bild verwandelte sich in das Gesicht eines Königs. Sie wusste, dass es ein König war, obgleich seine Kleidung schlicht war und er an einem Lagerfeuer stand. Er war ungefähr dreißig Jahre alt, seine Gesichtszüge wirkten stark und klug. Ein dichter, brauner Haarschopf fiel in wilden Locken über seine Schultern. Im Hintergrund war eine Festung zu sehen. Er las in einer Schriftrolle. Als er fertig war, übergab er sie einem Mann neben ihm, einem schlanken, hochgewachsenen, schwarzhaarigen Kerl.
Der König sprach, und hinter dem leisen Raunen des Kristalls hörte Torina seine tiefe, kräftige Stimme. „Unser Bündnis ist gefordert. Wir werden die Küste so befestigen, dass niemand es wagen wird uns anzugreifen. Diese marodierenden Sliviiter müssen sich ein anderes Land für ihre Raubzüge aussuchen." „Ihr habt vollbracht, was sonst keinem gelungen wäre. Ihr habt die zerstrittenen Parteien zu einem Verteidigungsbündnis vereint", sagte der Schwarzhaarige. Torina hielt den Atem an und starrte auf das Gesicht des Königs in ihrer Zauberkugel und wusste mit einem Mal wer er war.
„Dahmis!", rief sie leise. „Der Oberkönig." Er sprach weiter. „Noch müssen wir viele überzeugen. Mlaven im Norden, Endak fern im Osten, Vesputo im Süden. Was gäbe ich darum zu wissen, was
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