Das Auge der Seherin
bebenden Lippen flehte sie um ein Zeichen, irgendein Zeichen, das ihr seinen Aufenthaltsort verriet. Doch der Kristall lag kühl und leblos in ihrer Hand. Erschöpft und enttäuscht steckte sie ihn wieder ein.
Ein schrecklicher Gedanke durchfuhr sie. Wenn Vesputo immer noch Landen suchen ließ, vielleicht suchte er dann auch nach ihr. Natürlich konnte er für sie keine Belohnung aussetzen. Fast musste sie bei der Vorstellung lachen: Gesucht. Der Geist der toten Prinzessin Torina von Archeld. Doch Vesputo hatte auch andere Mittel und Wege.
Sie griff in die Zügeln und folgte dem fernen Grollen der Menge. Als sie sie erreicht hatte, ritt sie gegen den Strom, bis sie zum Stadttor kam. Ein anderer Wächter als zuvor winkte sie gähnend durch und Torina machte sich müde und traurig auf den Weg nach Hause.
2. Kapitel
Dahmis, König von Glavenrell und Oberkönig, genoss den einsamen Ritt durch den stillen Wald. Er war wie ein gewöhnlicher Krieger gekleidet und ritt auf einem einfachen Pferd. Viel zu lange schon hatte er die Natur entbehren müssen. Er lauschte dem sanften Hufschlag auf dem von Laub und Nadeln bedeckten Waldboden und machte sich klar, wie sehr seine Staatsgeschäfte ihn vereinnahmten.
Hinter ihm lagen Jahre ununterbrochener Verhandlungen mit feindseligen, misstrauischen Königen, die nur schwer davon zu überzeugen waren, dass ein Bündnis Schutz und Wohlstand für alle versprach. Er war am Ende einer Reise, auf der er eine Wahrsagerin treffen sollte. Der König schüttelte den Kopf und lachte. Er glaubte nicht, ein altes Weib würde seinen Kampf um die Einigung der Königreiche voranbringen können. Aber seine Neugier hatte wieder einmal gesiegt. General Larseid hatte ihn gedrängt den Brief zu lesen. Der Mann war von der Überbringerin der Botschaft wie verhext gewesen.
Nach seiner Karte musste die Hütte ganz in der Nähe sein. Der König spähte nach links und nach rechts durch die Bäume und entdeckte ein fest gezimmertes Holzhäuschen. Dahmis schwang sich vom Pferd und klopfte an.
Eine junge Frau öffnete ihm. Ihr Haar war unter einem Tuch versteckt, ihr braunes Kleid von einfacher Machart. Das Gesicht entsprach genau Larseids Beschreibung. Ihre lebhaften, zarten Züge fesselten den König sofort, vor allem ihre Augen, die von ungewöhnlicher, meergrüner Tiefe waren.
„Guten Tag", sagte er und ermahnte sich, wie ein gewöhnlicher Krieger aufzutreten. Die junge Frau im Türrahmen berührte ihn seltsam. Er wollte bei ihr bleiben, mit ihr sprechen, mit ihr spazieren gehen und sie näher kennen lernen. Kein Wunder, dass Larseid so verwirrt gewesen war.
„Guten Tag", antwortete sie. Ihre Stimme hatte eine vollen, lebhaften Klang, ihre Aussprache war gewählt. „Ich möchte zu Vineda." „Das bin ich." „Ihr seid Vineda?" Ja.".
Er wühlte in seiner Tasche. „Ich bin ein Abgesandter von König Dahmis. Er schickt Euch diesen Ring als Zeichen seines Vertrauens in mich."
Er streckte die Hand aus und zeigte ihr einen reich verzierten Ring. Vineda trat beiseite und ließ ihn eintreten. Er folgte ihr, den Ring immer noch in der ausgestreckten Hand. Sie ignorierte das Geschenk und schloss die Tür.
„Ich verstehe, dass Ihr unerkannt reisen musstet, König Dahmis", sagte sie und verschränkte ihre Arme, „aber dachtet Ihr wirklich, Ihr könntet mich mit dieser Verkleidung hinters Licht führen?"
Er breitete die Arme aus. „Ich erwartete, eine mummelnde Greisin anzutreffen. Statt dessen habe ich ...", er unterbrach sich und presste die Lippen zusammen. Sie sah ihn an, als kenne sie weder Furcht noch Ehrfurcht vor seiner Position. Und doch hatte sie ihn gerade König Dahmis genannt. Also wusste sie, dass er der Oberkönig war.
„Warum seid Ihr gekommen?" Eine so direkte Frage hatte der König nicht erwartet.
„Ich bin gekommen, weil ich eine Botschaft erhalten habe, nach der Ihr die Zukunft voraussagen könnt. Wenn das stimmt, seid Ihr für mich von unschätzbarem Wert." Auch wenn es nicht stimmt, schön seid Ihr allemal. „Nehmt Platz." Sie zeigte auf einen Stuhl. Sie setzte sich ihm gegenüber und nahm wie selbstverständlich eine Stickerei auf, als seien sie von gleichem Stand. Sie stickte an einem Blumenmuster. Dahmis beugte sich vor. „Ihr könnt in die Zukunft sehen?"
,Ja. Doch nur, was mir gezeigt wird. Ich kann nicht alles sehen."
Der König war immer mehr beeindruckt von dieser ungewöhnlichen jungen Frau. Fast wollte er ihr glauben.
Zumindest gab sie nicht vor
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