Das Auge der Seherin
war. Den Winter über hatten Anna, Lindsa und Tesh in relativem Wohlstand verbracht und immer genug Geld für die notwendigen Dinge des Alltags gehabt. Torina bewohnte ein freies Zimmer im Bauernhaus, half beim Weben und Nähen und lernte Backen und Kochen.
Bald schon erzielten ihre Stoffe Höchstpreise auf dem Markt in der Stadt. Torina war stolz, sich ihren Lebensunterhalt selbst verdienen zu können. Sie selbst trug nur gedeckte Farben und versteckte ihr Haar immer unter einem einfachen Kopftuch. Sie lächelte selten. Die Dirksons gaben sie als eine entfernte Verwandte aus, die einer feinen Dame gedient habe.
„Es muss eine feine Dame gewesen sein, das erklärt deine ungewöhnliche Sprache", meinte Anna. Torina nähte sich eine gefütterte Jacke und als sie fertig
war, unternahm sie oft Spaziergänge. Sie sehnte sich nach Einsamkeit.
Als das Frühjahr die Erde erwärmte, begann Tesh mit ihrer Hütte. Er war ein sorgfältiger, gewissenhafter Handwerker. Bald schon würde sie ein eigenes Haus haben, in dem sie ungestört wohnen konnte. Die Frühlingssonne schien warm. Torina ruhte sich von der Arbeit aus.
Es war April, ihr Geburtsmonat. Sie war sechzehn Jahre alt. Doch es gab keine Feier in festlichem Staat, keine Spieler und Musikanten, keine Eltern, die ihr lächelnd gratulierten. Stattdessen wollte sie einen Gemüsegarten anlegen.
Torina ließ die Hacke sinken und streckte ihre Arme aus. Aus ganzem Herzen sehnte sie sich nach dem einfachen Leben, nach einer normalen, alltäglichen Existenz. Hier, im milden Sonnenschein, ließ sich leicht vergessen, dass sie nachts oft aus Albträumen erwachte. Sie wollte die Vergangenheit einfach abhaken und redete sich ein, ihr früheres Leben in Archeld gehöre zu einer fernen Welt, deren Ufer sie längst verlassen hatte. Sie dankte dem Himmel für Lindsa. Deren ausgeglichenes, offenes Wesen war Balsam für Torina. Die beiden hatten rasch Freundschaft geschlossen. Nur wenn Lindsa auf die Vergangenheit zu sprechen kam, verfiel Torina in Schweigen.
Jetzt aber war Lindsa in Anton verliebt, einen hübschen und fröhlichen jungen Soldaten.
„Hat er nicht die schönsten Augen auf der ganzen Welt?", fragte Lindsa. Sie sprach von Anton. Da blitzten im Geist Landens Augen vor Torina auf, glühendes Sonnenfeuer gepaart mit der kühlen Tiefe stillen Wassers.
Nun bückte sie sich und griff mit ihren Händen in die fruchtbare Erde, verzweifelt auf der Suche nach innerem Frieden. Im Sommer sollte Hochzeit sein, dann würde Lindsa zu ihrem Mann ziehen und mit den tausenderlei Dingen einer Ehefrau beschäftigt sein. Torina nahm die Hacke auf und begann die grobe Erde zu bearbeiten.
Teil 2
1. Kapitel
Der Wind wirbelte tote Blätter durch die Luft. Torina hängte sich den leeren Korb über den Arm und zog ihren Schal fester um den Kopf. Dann bog sie auf den Pfad zum Anwesen der Dirksons ein. Als sie ums Haus ging, traf sie Anna über die Bohnen gebeugt. Sie schnippte Hülsen in einen halb vollen Korb. Torina machte sich daran ihr zu helfen.
,Ach, danke, Vineda. In dieser Jahreszeit fehlt mir Lindsa besonders."
Torina lächelte. „Sie fehlt dir zu jeder Jahreszeit, Anna."
Die Frau lachte kurz auf. „In einem Jahr hätte ich mich wirklich daran gewöhnen können. Hast du sie heute in der Stadt getroffen?"
,Ja. Ich war dort und habe mit dem Baby gespielt, damit
Lindsa ein paar Bohnen auslesen konnte."
„Ach, ich weiß noch wie gestern, als Lindsa selbst noch
ein Baby war", sagte Anna lächelnd.
„Sie wirkt sehr glücklich."
„Hm. Ein wonniges Kind. Sie hat den rechten Mann geheiratet. Das solltest du auch endlich!" Anna wühlte in den vertrockneten Ranken. „Ach, immer wenn ich das Thema Heiraten anspreche, bekommst du diesen traurigen Gesichtsausdruck. Nicht alle Männer sind gleich, meine Liebe! Warum heiratest du nicht? Es gibt genug junge Männer, die um dich werben." „Ich will nicht heiraten." Sie klopfte sich die Erde vom Rock. „Ich muss jetzt an meine Weberei." Sie warf Anna ein schmales Lächeln zu und wandte sich zum Gehen. Aufatmend betrat sie ihre Hütte, ihren Zufluchtsort. Die gemütliche Einrichtung war eine Wohltat für ihr frierendes Herz. Auf dem reinlichen Boden lag ein dicker Vorleger und die Wände schmückten farbenfrohe Teppiche. Torina hockte sich vor den Kamin und begann, ein Feuer zu entfachen. Sie zog den Schal vom Kopf und schlang den roten Haarzopf, der längst wieder gewachsen war, zu einem Kranz. Dann setzte sie sich in den
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