Das Auge der Seherin
jeder dieser Könige im Schilde führt!"
Es hatte den Anschein, als blickten sie seine braunen,
energischen Augen direkt an. Sie spürte eine Welle von
Wärme durch ihr Herz strömen.
„Was würdet Ihr dafür wohl geben, Oberkönig?"
Der Oberkönig! Dahmis, der junge König von Glavenrell, der Einiger der Königreiche, jener Mann, dessen Name in aller Munde war. Sie hatte sein Gesicht gesehen. Sie wollte teilhaben an der Zukunft, die er schuf. In der darauffolgenden Woche erfuhr Torina von Anton, dass Dahmis, König von Glavenrell, zu Besuch bei seinem Verbündeten, König Ardesen von Desante, erwartet wurde. Das Treffen sollte in der Hauptstadt Desan stattfinden. Die beiden Könige wollten Einzelheiten des gemeinsamen Grenzschutzes besprechen, den Dahmis mit den Nachbarländern plante. Torina beschloss, nach Desan zu reisen und dem Oberkönig irgendwie eine Botschaft zukommen zu lassen. Anna und Tesh besaßen nur ein Pferd. Torina war daran gewöhnt, die meisten Wege zu Fuß zu erledigen. Das Pferd wurde auf dem Hof gebraucht, sie konnte es unmöglich für mehrere Tage ausleihen. Aber Desan war weit entfernt.
Sie ging zu Tesh und bat ihn, ein Pferd für sie zu mieten.
„Eine anständige Stute. Ich will den alten, abgetragenen Sattel benutzen.
Er besorgte ihr eine kräftige Stute und beschrieb ihr den Weg nach Desan. Torina war froh über das herbstliche Wetter und flocht ihr flammendes Haar zu einem langen Zopf, den sie unter einem unscheinbaren Tuch zusammensteckte. Sie hatte eins ihrer üblichen schlichten Kleider an und legte zusätzlich noch einen dunklen Umhang um
Früh am Morgen ritt sie los.
Leichter Nebel bedeckte den Boden, der Himmel war grau und kalt. Torina spürte eine freudige Erregung, endlich zu einem selbst gewählten Abenteuer aufzubrechen. Sie ließ das Dorf hinter sich und ritt zur Hauptstraße.
Um die Mittagszeit erreichte sie die breite Straße nach Desan. Massen von Menschen schoben sich vor ihr her und sie verzagte bei dem Gedanken, dass sie alle gekommen waren, einen Blick auf den hohen Besucher zu werfen. Wie sollte sie unter so Vielen an ihr Ziel kommen? Vor den Toren der Stadt kam der Menschenstrom fast zum Erliegen. Einige Reisende wurden angehalten und von den Wachen verhört. Mit klopfendem Herzen näherte sie sich dem Schlagbaum. Nach zwei Jahren würde doch niemand mehr nach ihr suchen? Aber sie kannte Vesputos Hartnäckigkeit. Was immer er die anderen glauben gemacht hatte, er musste wissen, dass sie die Flucht auch überlebt haben konnte. Am Stadttor stand ein junger Wächter und sah sie neugierig an. Sie schenkte ihm ein schüchternes Lächeln und er winkte sie durch. Torina folgte der Menge durch die Hauptstraße.
Sie war Menschenansammlungen nicht gewohnt, ihrer Stute schienen sie aber nichts auszumachen. Das gute Tier gehorchte ihren Befehlen und setzte Schritt vor Schritt, selbst wenn es von Vorübergehenden angerempelt wurde. Wie ein zäher Strom wälzte sich die Masse
auf den Hauptplatz der Stadt zu, an dessen Ende die Festung von König Ardesen emporragte. Auf dem Platz standen Männer, Frauen und Kinder so dicht gedrängt beieinander, dass Torina sich an den Rand flüchtete und überlegte, was zu tun sei. Alle außer ihr schienen Bescheid zu wissen. Vergeblich versuchte sie, aus dem allgemeinen Lärm einzelne Stimmen herauszuhören. Sie konnte kaum noch denken. Sie lenkte ihr Pferd in eine Seitengasse und ritt ziellos weiter, bis sie in eine ruhige Straße kam. Verzagt ließ sie ihren Kopf auf den Pferdehals sinken. Wie hatte sie jemals glauben können, dem Oberkönig persönlich eine Botschaft übergeben zu können? Die durstige Stute hatte einen Trog am Straßenrand entdeckt, sie neigte den Kopf und trank, während Torina sich die Beine vertrat.
Neben ihr reckte ein außergewöhnlich schöner Hengst seine Nase vor, um ebenfalls an die Wasserstelle zu kommen. Torina lächelte, als das edle Tier sie zur Seite schubste.
„Entschuldigt", sagte der dazugehörige Reiter und schwang sich vom Pferd. Er hatte dunkles Haar und trug eine braune Uniform.
Braun. Ardesens Krieger tragen rote Uniformen. Dieser Mann dient bestimmt Glavenrell und dem Oberkönig. Torina sah ihn an und erschrak. Es war der Mann, den sie in ihrem Kristall gesehen hatte. Der, der mit König Dahmis gesprochen hatte. Sie starrte ihn an.
„Ich muss mich entschuldigen", sagte er, „mein Pferd hat bessere Manieren, wenn es weniger durstig ist. Die Menschenmenge ..." Er unterbrach sich.
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