Das Auge der Seherin
„Alles in Ordnung junge Frau?"
Ja. Ach, Ihr Pferd hat mir ja nichts getan. Es ist nur, dass ..."
Ja?", warf er ein und sah sie ernst und höflich an. „Ach, verzeiht mir, Ihr müsst mich für dumm halten. Meine Herrin hat mir aufgetragen, dem Oberkönig eine Botschaft zu überbringen, aber das scheint mir heute unmöglich zu sein. Aber Ihr - Ihr dient König Dahmis?"
„ Ja"
„Oh, Herr, wäre es möglich, Euch die Botschaft mitzugeben?"
„Selbstverständlich." Er lächelte.
„Aber seid Ihr sicher, dass er sie lesen wird, solange er hier ist?"
Sie schien sein Interesse geweckt zu haben. „Ich werde tun, was ich kann."
Der Mann hatte etwas Beruhigendes an sich. Bestimmt würde er die Botschaft überbringen. Sie langte in ihren Umhang und zog eine Papierrolle hervor. Er nahm sie und verstaute sie in einer Innentasche seines Mantels.
„Darf ich Euren Namen erfahren, Herr?" „Ich heiße Larseid."
Sie sah, dass er darauf wartete auch ihren Namen zu erfahren. Doch sie wandte sich um und bestieg hastig ihre Stute.
„Ich danke Euch vielmals. Lebt wohl." Sie trabte durch die Gassen davon, benommen vor Hoffnung. Einen der Männer aus dem Umkreis von König Dahmis getroffen zu haben, grenzte an ein Wunder. Glücklich überließ Torina dem Pferd die Führung und achtete nicht auf den Weg.
Als sie sich einige Zeit später umschaute, wunderte sie sich, wohin sie geraten war. Kleine Läden säumten die Straße, aber alle hatten geschlossen, um den großen König zu sehen. Gleichgültig betrachtete sie die vergitterten Fenster. Aus den sorgfältig beschrifteten Schildern schloss sie, dass viele Städter lesen konnten. An einer mit Anschlägen übersäten Hauswand entdeckte sie plötzlich das Wort Belohnung. Schaudernd blieb sie stehen und las:
GESUCHT!
DER MÖRDER VON KÖNIG KAREED VON ARCHELD
Name: LANDEN.
BESCHREIBUNG: groß, dunkles Haar, ausgezeichneter Bogenschütze und Schwertkämpfer, guter Reiter, stellt selbst Bogen her. Belohnung: 20 Raschus für Hinweise, 50 Raschus für Festnahme. Nähere Auskünfte hier.
Torinas Herz klopfte wild. Sie jagten ihn! Wie versteinert saß sie im Sattel, Bilder von Landen schwirrten ihr durch den Kopf. Sie sah ihn bei ihrer ersten Begegnung, wie er gefesselt und geschunden vor ihr auf die Knie fiel. Wie er an der steilen Felswand hing, wie er ihr einen selbst gemachten Bogen schenkte, sie sich heimlich trafen, er sie vor Vesputo warnte.
Sie hatte versucht, nicht an ihn zu denken, ihn aus ihrem Herzen zu verbannen. Sie hatte sich eingeredet, er sei zu früh gegangen, habe ihr zu wenig gesagt, hätte mehr für sie tun müssen. Doch jetzt, vor dem im Wind flatternden Steckbrief, sah sie die Dinge von einer anderen Seite. Aus der Sicht eines Flüchtlings sah die Welt anders aus. Mit beißender Schärfe erinnerte sie sich ihrer anmaßenden Frage. „Und Ihr wollt wirklich in der Fremde leben?" Und seiner trockenen Erwiderung. „Ich lebe seit meiner Kindheit in der Fremde." Torina ließ den Kopf hängen. Herzlos und unbedacht kamen ihr ihre Worte jetzt vor. Obwohl sie gewusst hatte, dass ihr Vater Landens Vater getötet, sein friedvolles Land gemeuchelt, seine Kultur zerstört hatte, hatte sie nicht Recht für den Jungen gefordert, der ihr Freund geworden war. Sie war mit dieser kostbaren, raren Freundschaft gleichgültig und unachtsam umgegangen, hatte ihn sogar monatelang vergessen, während sie sich dem Werben eines Mannes wie Vesputo hingegeben hatte. Landen hatte sie erwählt, hatte sein Leben aufs Spiel gesetzt, um sie zu warnen, hatte ihr und keinem anderen anvertraut, dass er Archeld verlassen wollte. Und was hatte sie ihm geantwortet? „Ihr wollt wirklich in der Fremde leben?" Der Gedanke an diese Frage quälte sie.
Und als dann ihr Vater von seinem engsten Vertrauten getötet worden war, hatte sie Landen gegrollt, weil er sie zu früh verlassen hatte. Zu früh? Eher hatte er zu lang gewartet.
Aber der Steckbrief bewies, dass er lebte! Vesputo hätte bestimmt keine Belohnung ausgesetzt, wenn er ihn schon gefunden hätte. Womöglich war Landen ständig auf der Flucht, hielt sich irgendwo versteckt, vielleicht sogar in Desante? Doch wie konnte sie ihn finden? Torina vergaß alles um sich herum und holte die Kristallkugel hervor.
Sie sah hinein und betete um ein Bild ihres einstigen Spielkameraden.
Nichts. Nur ihre eigenen Augen, die Augen einer Seherin, blickten ernst und klar auf sie zurück. Wie sehr sie sich auch anstrengte, die Kugel blieb klar. Mit
Weitere Kostenlose Bücher