Das Auge der Seherin
allwissend zu sein.
„Und was seht Ihr in Bezug auf mein Reich?"
Sie ließ die Arbeit ruhen und sah ihn prüfend an.
„Wenn ich es Euch sage, werdet Ihr auch handeln?"
„Wenn es dem Wohl des Königreiches dient, ja. Wenn es
vernünftig klingt."
„Ist die Wahrheit immer vernünftig?", fragte sie mit tonloser Stimme, in der Trauer und Kälte mitschwangen. Überrascht sagte der König: „Ich glaube kaum." „Gerade die unvernünftigen Dinge müssen vorhergesagt werden. Denn man erkennt nur, was man weiß. Sonst ist man ihnen unvorbereitet ausgeliefert." Ihm fiel auf, dass sie ihn nicht mit ,Sire' oder ,mein Herr' anredete. Doch aus ihrem Mund klang es seltsam erfrischend und ganz natürlich. „Ich kenne Eure Künste noch nicht." „Das heißt, Ihr wollt nicht zu einer unvernünftigen Tat verleitet werden?"
Er nickte, warum hätte er es auch leugnen sollen. „Das ist vernünftig. Ihr kennt mich nicht. Ich könnte auch eine Lügnerin sein. Eine Prophezeiung sollt Ihr umsonst bekommen. Missachtet Ihr sie, wird es die letzte gewesen sein." „Einverstanden."
Sie legte ihre Stickerei beiseite. „König Vesputo trachtet
nach Eurem Reich und Eurem Leben."
Dahmis lehnte sich zurück. „Vesputo hat mich seiner
Freundschaft versichert und noch nie die Grenzen meines Reichs verletzt."
„Es ist nicht seine Art, Pläne offen zu legen."
Dahmis gestand sich, dass Vesputo als unberechenbar
galt. „Was also ist seine Art?"
Vinedas Blick richtete sich nach Innen und mit leiser Stimme sprach sie: „Er zielt auf das Herz, denn er weiß, wenn das Herz stirbt, sterben bald darauf auch Hände und Füße."
Dahmis spürte eine plötzliche Beklemmung in der Brust. Er versuchte, der Wahrsagerin in die Augen zu schauen, die auf einen unbestimmten Punkt in der Ferne gerichtet waren. „Was habt Ihr gesehen? Bitte sprecht."
König Dahmis saß in seinem Ratszimmer auf Burg Glavenrell. Durch die dicken Mauern und geschlossenen Türen drang kein Ton nach außen. Bei ihm waren seine zwei engsten Vertrauten, Larseid, sein bester General, und Michal, sein ältester Freund.
Dahmis spürte die Anspannung in Schultern und Stirn. Er hatte Vineda schwören müssen, niemandem etwas von ihr zu verraten, außer dass sie existierte. Seinen Freunden erzählte er deshalb nur, er hätte eine Seherin um Rat gefragt.
Michal, ein kräftiger Mann mit schelmischen Augen, saß dem König gegenüber auf einem Stuhl. Sie waren zusammen aufgewachsen und immer noch eng befreundet. Larseid, ein großer, hagerer Mann mit ernsten, dunklen Augen und schwarzen Haaren, die hinten am Kopf zusammengebunden waren, saß zur Linken des Königs.
Die drei Männer trafen sich oft und legten auf Förmlichkeiten keinen Wert, wenn sie allein waren. „Ein Attentäter im Auftrag König Vesputos soll morgen Abend hier ankommen?", fragte Michal ungläubig. Larseid legte seine Fingerspitzen aufeinander. „Hat sie ihn beschrieben? Können wir ihn erkennen?" „Oh ja. Die Beschreibung war sehr genau." „Also, wenn sie Recht hätte." „Wenn."
„Glaubst du, sie hat die Wahrheit gesagt?", warf Michal ein.
„Wer weiß?"
„Aber glaubst du daran?"
Dahmis dachte an die junge Seherin mit dem schlichten Kleid und den bezaubernden Augen. „Ich möchte nicht daran glauben", sagte er barsch, „aber ich tue es." Larseid strich sich übers Kinn. „Dann sollten wir unser Vorgehen besprechen. Wir müssen damit umgehen, als sei es eine Tatsache."
„Ich kann einen Abgesandten Vesputos doch nicht einfach festnehmen lassen! Vesputo würde mir das nie verzeihen. Wenn alles nur ein Schwindel ist, riskieren wir einen Krieg!"
Michal grinste. „Das ist wirklich ein Problem."
Larseid rieb sich die Stirn. „Wir müssen Wachen aufstellen. Sobald er dieses Stilett zieht, müssen sie eingreifen."
„Nein. Schon ein winziger Kratzer wäre tödlich. Gift." „Wir müssen uns etwas anderes ausdenken", meinte Larseid nachdenklich.
„Ich hab's", rief Michal lächelnd und breitete die Arme aus. „Ich spiele den König! Vorgewarnt ist halb gewonnen! Ich bin stärker als du und kann ihn überwältigen, sobald er auch nur einen Finger rührt. Du und Larseid bleibt in der Nähe mit einem Trupp ausgewählter Krieger. Wir finden heraus, was er vorhat und niemand geht ein Risiko ein."
Dahmis schüttelte den Kopf. „Nein. Das würde dich in Gefahr bringen. Wir können den gleichen Plan auch mit mir ausführen, dem echten König." Michal lachte. „Nein. Wenn du getötet wirst, brechen
Weitere Kostenlose Bücher