Das Auge der Seherin
Gesten. „Und nicht vergessen!" „Ich weiß. Keine Toten." Der Große verschwand in Richtung der Ställe.
Emid war nun allein mit dem Dieb, nur wenige Bäume trennten sie voneinander.
Er atmete ganz verhalten, um sich nicht zu verraten, denn er fürchtete, der Mann könnte seine Gegenwart spüren.
Wer ist das ? Was ist in der Kiste?
Der Mann kniete neben der Kiste. Er blickte zum Schloss zurück und legte seine Hände aufs Herz, als verspürte er tiefes Leid. Er hob die Hand und streifte die Kapuze vom Kopf. Hell schien der Mond auf sein Gesicht.
Landen! Landen ist es! Was will er hier ? Erst gestern hieß es, er sei gefangen genommen!
Der Ausbilder sah sich das vom Mondlicht gezeichnete, feine Profil genau an. Das Gesicht war schmutzig und voller Bartstoppeln, er sah älter aus als er war. Hat er König Kareed ermordet ? Emid konnte nicht glauben, dass dieses traurige, entschlossene, junge Gesicht das Gesicht eines Mörders war. Was hatte der andere Mann gesagt? „Keine Toten. "Würde ein Mörder den Befehl geben nicht zu töten?
Emid wollte zu ihm, ihm tausend Fragen stellen. Wohin war er geflohen? Was hatte er gesehen? Wem galt seine Trauer? Vielleicht der Prinzessin? Um wen sonst sollte Landen trauern? Doch Emid blieb, wo er war.
Landen schulterte die Kiste und verschwand, ohne eine Spur zu hinterlassen.
Dann kam Leben in den alten Krieger. Als er sich auf den Weg machte, stieß er mit dem Fuß an einen klirrenden Gegenstand. Er bückte sich und hob einen großen Schlüsselbund hoch.
Die Schlüssel des Königs? Wie kam Landen zu Vesputos Schlüsseln?
Verdutzt drehte Emid die Schlüssel hin und her. Er steckte sie in seinen Umhang und ging gemessenen Schrittes weiter auf seiner üblichen Runde, als sei nichts geschehen.
Im Vorübergehen nickte er den Wachen zu. Er berechnete seine Schritte so, dass er die Hintertreppe zum Schlosshof in dem Augenblick erreichte, als die Wachen ihm den Rücken zuwandten. Dann legte er den
Schlüsselbund in eine dunkle Ecke der Brüstung, wo er mit dem ersten Tageslicht entdeckt werden würde. Sollte Vesputo ihn morgen fragen, ob er etwas gesehen hätte, wusste er, was er antworten würde. Nichts als den Mond über der winterlichen Erde.
Kurz nach Sonnenaufgang ritten Landen und Andris auf ihren grauen Hengsten an Archelds felsiger Küste entlang.
Die Tiere waren durstig und hielten an einem kleinen Wasserlauf. Die beiden Reiter stiegen ab. „Es ist mir ein Rätsel, wie du im Dunkeln den Weg zur Küste finden und so weit kommen konntest", sagte Andris.
„Ich habe dir doch gesagt, ich kenne dieses Land." Landen blickte über das Meer. „Wir werden den ganzen Tag reiten. Gefangene Diebe leben nicht besonders lang." Er grinste. „Wahrscheinlich halten sie sich jetzt ihre Brummschädel."
Jawohl." Andris kicherte. „Die Festgesellschaft erwacht." Er hielt Landen die Faust vor die Augen. An seinem Finger blitzte Vesputos Ring. „Zwei Pferde, Mann, aber schnell", befahl Andris und parodierte die Szene der vergangenen Nacht. „So leicht war das Pferdestehlen noch nie!"
„Vesputo wird sterben vor Scham."
„Einen Tod, den er verdient hat." Jetzt lachte Andris.
Aus dem bedeckten Himmel kamen die ersten Schneeflocken. Landen fing eine mit der Zunge auf. „Andris, wir sind gerettet."
„Gerettet? Jetzt kommen wir langsamer voran und kalt wird es auch, Bellanes."
„Das gilt auch für unsere Verfolger. Der Schnee wird unsere Spuren verdecken." Landen schwang sich in den Sattel. „Wir reiten nach Nordosten." „Liegt das nicht etwas abseits?"
„Ein bisschen. Bis hierher können sie unseren Spuren folgen. Aber dann wissen sie nicht mehr weiter. Komm, Mann! Vesputo steckt so eine Schlappe nicht einfach weg. Er wird das ganze Land nach Landen, dem teuflischen Mörder, durchkämmen lassen."
Als es Abend wurde, waren die beiden Reisenden so erschöpft und durchfroren, dass sie kaum noch ihr Zelt aufschlagen konnten. Sie suchten zwischen den schneebedeckten Büschen und Gräsern ein paar trockene Äste und entfachten ein armseliges Feuerchen. Sie wollten abwechselnd wachen, um das Feuer nicht ausgehen zu lassen.
Andris übernahm die erste Wache und setzte sich an die schwelende Glut.
Irgendwann in der Nacht wachte Landen frierend auf. Er brauchte einen Augenblick, bis er wusste, wo er war. Im Zelt war es stockdunkel. Er steckte den Kopf hinaus und sah Andris, von Kopf bis Fuß in Decken gehüllt, vor den von Schnee bedeckten Überresten des Feuers liegen und
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