Das Auge der Seherin
über die Prinzessin und hielt so ihr Andenken lebendig. Aber nicht von der verwirrten, geistesschwachen Torina erzählte er, die Vesputo entworfen hatte, sondern von dem lebenslustigen, ungestümen Feuerkopf, den er gekannt hatte. Und Königin Dreea? Er sah sie selten, doch wenn, dann bemerkte er ihren traurigen Blick, und er glaubte, dass auch sie heimlich hoffte, ihre Tochter läge nicht in dem Grab, das ihren Namen trug. Sie sprachen nie darüber. Nachdem Dreea genesen war, geisterte sie still und bleich durch das Schloss, sie webte und stickte und kümmerte sich um die Hauswirtschaft. Bei offiziellen Anlässen, wenn ihre Anwesenheit erwünscht war, stützte sie sich am liebsten auf Emids Arm.
Vor einigen Wochen, als Vesputo fort war, hatte die Königin Emid gebeten, bei den täglichen Übungsstunden zuschauen zu dürfen. Sie kam in Begleitung Mirandaes und sah, in warme Decken gehüllt, von einer Bank aus den Jungen zu. Irgendwann fand die Königin einen Grund, Mirandae zurück ins Haus zu schicken. Dann lächelte sie den Jungen zu und bat Emid, sie zurück zu ihrem Webstuhl zu begleiten. Als sie zum Schloss gingen, ließ sie eine Schriftrolle in seinen Ärmel gleiten. „Was ich Euch hier übergebe, kann unser beider Todesurteil sein, falls irgendjemand dies findet", sprach sie, den Blick ernst nach vorn gerichtet. „Ich vertraue Euch eine Botschaft an den Oberkönig an, Emid. Ihr dürft sie lesen, wenn Ihr mir anders nicht vertraut. Doch achtet auf die Knoten, Ihr müsst sie genau gleich binden, denn sie sind mein persönliches Erkennungszeichen für König Dahmis."
„Liebe Königin, es ist eine große Ehre für mich. Ihr könnt mir alles anvertrauen, solange ich lebe. Sagt mir, was in dem Brief steht. Mit Knoten kenne ich mich nicht aus."
„Der Brief bezeichnet die Stelle, wo das Schwert von Bellandra versteckt ist, und fordert den König auf, es vor Vesputo zu schützen."
Und dann sprach sie vom Wetter. Emid schwirrte der Kopf. Seine Gedanken kreisten nur noch um das sagenumwobene Schwert von Bellandra. Dreea wusste, wo es sich befand! Und sie benötigte seine Hilfe, um es vor Vesputo zu schützen!
Die Schriftrolle wurde durch einen geheimen Kundschafter weitergeleitet.
Als Emid in dieser Nacht bei den Wachen vorbeikam, winkte er ihnen wie immer gleichgültig zu und stapfte weiter über das Gelände. Wie schon so oft wünschte er, er hätte mehr politischen Verstand. Er durchschaute Vesputos listenreiche Herrschaft einfach nicht. Wenn ich mit Sicherheit wüsste, dass Torina am Leben ist, würde ich es jedem erzählen, der es wissen will. Aber ich weiß nichts.
Ich kann die Menschen nicht hinter einem Geist herjagen lassen. Selbst wenn sie lebt, kommt sie vielleicht nie mehr zurück.
Noch hatte es nicht geschneit, aber die Luft roch nach einem herannahenden Schneesturm. Der Mond schien auf die von Bäumen abgeschirmten Mauern auf der Südseite des Schlosses, wo die Türen schon winterfest gemacht worden waren.
Im Weitergehen fiel Emids Blick auf eine der Mauern. Es hatte den Anschein als bewege sie sich, wenn auch nur ganz leicht. Er sah sich um, keine Wachen weit und breit. Der Ausbilder verschmolz mit dem Schatten der Bäume.
Die Mauer bewegte sich wirklich! Eine versteckte Tür quietschte und öffnete sich. Dann sah Emid einen von einer Kapuze bedeckten Kopf, der sich rasch hin- und herbewegte, offensichtlich, um das Gelände zu sichern. Der Mann, wer auch immer es sein mochte, machte nach hinten ein Zeichen und trat ins Freie. Unter dem Arm trug er eine große Kiste in der Form einer Pyramide. Jetzt schlich ein riesiger Kerl heraus, der die Tür sorgfältig hinter sich schloss. Der Mond schien wieder auf eine unversehrte Mauer.
Emid stand wie angewurzelt da, als die beiden Männer geduckt zu den Bäumen hasteten. Er öffnete den Mund, um die Wachen herbeizurufen. Aber dann rief er doch nicht. Etwas an dem Kapuzenmann - seine Beweglichkeit, seine Anmut - kam ihm schrecklich vertraut vor.
Die Männer huschten keine drei Meter entfernt an ihm vorbei, er konnte sogar ihr Atmen hören. „Du beschaffst die Pferde. Mit Hilfe seines Rings", sprach der Kapuzenmann leise. „Graue Hengste, die gibt es hier überall. Wir treffen uns im Wald hinter den Ställen."
„Warum holst du denn nicht die Pferde?", flüsterte der andere.
„Weil man mich hier kennt, hast du das vergessen?" „Wo sind die Ställe?", fragte der große Mann. Sein Kamerad sagte es ihm und unterstrich seine geflüsterten Worte mit
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