Das Auge der Seherin
unter den Tisch. Andris ließ seinen Kopf auf die Tischplatte sinken und tat, als ob er schnarche.
Er hörte das Kichern der Mägde, die die Kerzen ausbliesen und im Hinausgehen tuschelten, dass sie erst selbst noch feiern wollten, bevor sie wiederkämen.
Landen stand in einer stockdunklen Zelle und lehnte sich gegen die Wand. Das war kein gewöhnliches Gefängnis, es war ein unterirdisches Gewölbe, stumm wie ein Grab. Er konnte nichts hören und nichts sehen. „Ich bin dem Tode geweiht", flüsterte er und fragte sich, ob das Schicksal sich gegen ihn verschwor und er sein Leben in Archeld lassen musste.
Die Dunkelheit und völlige Stille erdrückten ihn. Die Vergangenheit war so nahe gerückt, er meinte sie mit Händen greifen zu können wie die Mauer, gegen die er sich stützte. Als er über den vertrauten Schlosshof geführt worden war, hatten seine Nerven bloß gelegen. Er erinnerte sich ganz deutlich des Tages seiner Ankunft, als Vesputo ihn vor der Prinzessin in den Staub geworfen hatte. Und er erinnerte sich ihres freundlichen Mitgefühls, als sie ihm auf die Füße half. Und ihrer kindlichen Stimme.
„Ich kann mit ihm machen, was ich will? ... Ich schenke ihm die Freiheit."
Torina. Er liebte sie noch immer. Liebte sie über den Tod hinaus. Tot. Dort, im Schlosshof, hatte es ihn unermessliche Kraft gekostet, nicht auf Vesputo loszugehen. Er wusste, dass Andris ihm geholfen hätte, wenn er seine Pläne geändert hätte.
Landen zitterte immer noch bei der Vorstellung, Vesputo zu würgen, die Wahrheit aus ihm herauszuschütteln.
„Auf, zurück in die Gegenwart", befahl Landen sich laut, löste seine Hände von der Wand und schlug sich auf Schultern und Wangen.
Auch in Finsternis und Unglück währt der Augenblick ewig, hallten die alten Lehren in seinem Kopf wider. Warum war er hier? Für Dahmis, den Oberkönig. Warum setzte er so viel für ihn aufs Spiel? Weil Dahmis ein Mann des Friedens war.
Was ist mir im Leben geblieben als das Vermächtnis Bellandras? Mein Vater lebte für den Frieden und starb durch das Schwert. Soll das alles umsonst gewesen sein ? Wo bleibt die Gerechtigkeit?
„Nein, nein", sprach er zu sich selbst, „solche Fragen führen in den Wahnsinn. Frage nicht nach Gerechtigkeit, frage, wo Andris bleibt. Wo ist Andris? Wie lange bin ich schon in diesem Grab?"
Er tastete sich an der Wand entlang bis zu der vergitterten Tür und hielt sich daran fest. Er meinte Schritte zu hören. Ja. Da kam jemand.
Unruhig lauschte Landen auf die heranpolternden Schritte. Dann hörte er heftiges Atmen. „Kommst du endlich, du Trunkenbold?", zischte er. „Psst, Bellanes. Ja, ich bin's", ertönte die schleppende Stimme von Andris. „Tut mir Leid. Es hat lange gedauert, bis ich ihn unter den Tisch getrunken habe." „Die Wache?", flüsterte Landen. „Die wird morgen einen Brummschädel haben." „Kerze?"
„Hier", grunzte Andris. Ein Licht flammte auf und eine Kerze wurde durch die Gitterstäbe geschoben. „Halt mal, ich muss den verdammten Schlüssel finden."
Andris hielt einen großen Schlüsselbund empor. Landen lächelte erleichtert.
„Die Schlüssel des Königs? Hast du auch seinen Siegelring?"
„Das war nicht schwer, nachdem er endlich umgefallen war."
Die Tür quietschte in den Angeln. Landen umarmte seinen Befreier.
„Du verdienst den Tod durch den Strang! Musstest du unbedingt so stark an der Leine ziehen? Du hast mir beinahe den Kopf abgerissen!"
„Ich habe doch nur versucht, Schlimmeres zu verhindern, Bellanes. Der Hauptmann Beron hasst dich, das hast du selbst gesagt."
„Ich weiß, was ich dir gesagt habe." Landen grinste. „Vielen Dank. Der Behälter, den wir stehlen sollen, muss sich ganz in der Nähe befinden, wenn ich den Plan richtig im Kopf habe."
Emid hatte sich angewöhnt, nachts, wenn es in den Baracken ruhig geworden war, noch ein paar Schritte zu gehen. Der vom Mondlicht versilberte Himmel und die Erde spendeten ihm Kraft, so wie ihm einst die Pflichterfüllung Kraft gespendet hatte. Er wusste nicht mehr, wofür er junge Männer zu Kriegern ausbildete. Der Gedanke an König Vesputo erfüllte ihn mit Abscheu. Emid konnte die seltsame, rothaarige Gestalt in der Kapelle nicht vergessen, die Frau, die unmöglich Torina gewesen sein konnte. Ständig dachte er darüber nach, wo Vesputo die wahre Prinzessin gefangen hielt. Immer wieder schlich er sich in die Nähe der Ratszimmer, um nach Hinweisen zu suchen. So oft er konnte, erzählte er seinen Jungen Geschichten
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